MARTIN REICHERT über LANDMÄNNER : Das Gelbe vom Weichei
Der Horror macht Urlaub auf dem Bauernhof: Vogelgrippe! Stallzwang! Und vor allem: Schlachttag!
Als Gastgeber spielt man eine Rolle, und wenn man als Paar schon jahrelang zusammen ist, mutiert die Gastgeberrolle zum Rollenspiel. Es ist wie in dem Film „Rosenkrieg“: „Liebling, möchtest du unseren Gästen nicht die Geschichte mit den Baccarat-Gläsern erzählen?“ Es gibt einfach ein Reservoir an Anekdoten und Pointen, die man erzählt, wenn sich Besuch aus Berlin ankündigt, um mal Landleben zu gucken.
So wie neulich, als eine ganze Wagenladung urban herausgeputzter, hübscher Mitte-Boys im „Salon“ saß, und lieber selbst gebackenen Zitronenkuchen essen wollte, statt im Luch spazieren zu gehen: zu kalt, trotz der Fake-Fur-verbrämten Anoraks.
„Warum hat denn der Kuchen so eine schöne Farbe?“ Tjaaa … also, das liegt natürlich daran, dass die Eier von glücklichen Hühnern sind! Das passte so schön zu der Landliebe-Idylle und der mit frischem Herbstlaub geschmückten Kaffeetafel, man möchte seinen Gästen doch auch etwas bieten, was ihren Erwartungen entspricht. Wenn sie schon den weiten Weg auf sich nehmen.
Die wirkliche Hühnergeschichte ist derzeit eher ein Gruselschocker. Am Tag zuvor hatten wir das Geflügel besucht, das derzeit bei der Schwiegermutter untergebracht ist: Stallzwang! Vogelgrippe! Und vor allem: Schlachttag! Wo sind sie denn die glücklichen Hühner? Der Weg zum Stall war von frisch ausgerupften Federn gesäumt, die mit einem Holzriegel versehene Tür öffnete sich knarrend, woraufhin sich sämtliches Federvieh panisch in eine Ecke flüchtete: Die vom Martinstag verschonten Restgänse drückten sich in die rechte Ecke, der Hahn versuchte, zumindest den Anschein zu erwecken, dass er notfalls bereit wäre, seine Hühner zu verteidigen, auch und erst recht in diesen schwierigen Tagen. Sie waren allesamt komplett traumatisiert. Dabei wusste man in diesem Moment nun wirklich nicht, wer hier vor wem mehr Angst hat: Niest da wer?
Natürlich hatte ich mich vor der Schlachtassistenz gedrückt, obwohl die Schwiegermutter ausdrücklich nachgefragt hatte. „Das kann der nicht“, hatte mein Freund ihr mitgeteilt. Da bin ich auch wirklich ein Weichei. Als das Geflügel noch unter unserer Regie lebte, war das alles viel schöner. Das Gänsepaar hatten wir kurz vor Weihnachten vom benachbarten Gutshof gekauft, es waren die letzten Überlebenden einer riesigen Herde (sagt man das so bei Geflügel?) gewesen. Gerettet. Und die Hühner hatten auch dann noch ein Anrecht auf Leben, wenn sie vor lauter Altersschwäche ständig von der Leiter fielen. Das Fleisch hatten wir dann lieber im Geschäft gekauft. Dekontextualisiertes Fleisch.
Meine Einstellung zum authentischen Landleben ist ungefähr genauso wie die von Bill Clinton zum Kiffen: lieber nicht inhalieren. Aber das muss man den Gästen ja nicht gleich auf die Nase binden, der Glaubwürdigkeit halber. Nach zwei Stunden waren die Jungs schon ganz unruhig geworden, wollten zurück in die Stadt, es galt, Jugendtanzveranstaltungen und Ähnliches zu besuchen. Fast wäre man versucht gewesen, sie zu begleiten.
„Berlin zieht, wa?“, hatte die verstorbene Großmutter immer gesagt, wenn ich am Sonntag doch schon früher zurückgefahren war. Sie hätte sich über den schmucken Herrenbesuch bestimmt gefreut, zumal doch sogar ein leibhaftiger Arzt dabei war. Allein unter Männern, da wäre sie in ihrem Element gewesen, jetzt erinnerte nur noch der röhrende Porzellanhirsch auf dem Tisch an sie – eine der Anekdoten, die man erzählt, wenn Besuch kommt.
Am nächsten Tag wollten mein Freund und ich noch den Kranichen Auf Wiedersehen sagen. In der Regel versammeln sie sich auf den Wiesen rund um den Ort, bevor es in den Süden geht. Ein tolles Schauspiel, normalerweise. Diesmal aber hatten wir sie auch nach einer Stunde noch nicht entdecken können. Erst auf der Autobahn in Richtung Berlin sahen wir welche, auf der linken Seite, und haben ihnen über drei Fahrspuren hinweg zugewinkt. Völlig bescheuert, aber manchmal klappt es eben nicht mit der Idylle auf dem Land.
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