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Archiv-Artikel

MACHT Manchmal verliert man

ES GIBT GUTE GRÜNDE, GEGEN MOHAMMED MURSI ZU SEIN – DENNOCH IST ER DEMOKRATISCH GEWÄHLT

Ein ägyptischer Freund postet auf Facebook das Foto einer Kundgebung in Brasilien mit der Überschrift „Brasilien zeigt der Welt, wie man es macht“, und er kommentiert: „Wir zeigen denen, wie man es macht.“ Soll heißen: Wir können es noch besser. Was genau meint der Mann, den ich als besonnen kenne und der 2011 bei den Protesten gegen den damaligen Präsidenten Husni Mubarak nie seine Fähigkeit zur klugen Analyse verloren hat? Er meint, dass jetzt auch dessen Nachfolger Mohammed Mursi aus dem Amt gejagt werden sollte. Das ist keine gute Nachricht.

Für Sonntag, den Jahrestag des Amtsantritts von Mursi, hat die Opposition zu Massenprotesten aufgerufen. Es gibt so viele Gründe, gegen den Präsidenten zu demonstrieren, dass der Platz dieser Kolumne dafür nicht ausreicht. Einige Beispiele: Er hat eine islamistisch gefärbte Verfassung mittels einer Farce durchgepeitscht, die er als Volksabstimmung bezeichnete. Die Menschenrechtslage in Ägypten ist inzwischen wieder so schlecht wie zu Mubaraks Zeiten, die Wirtschaftslage deutlich schlechter. Die Polizei wendet exzessive Gewalt gegen Demonstranten an. Zahlreiche Oppositionelle sitzen in Militärgefängnissen. Ja, es gibt sehr gute Gründe, gegen Mursi zu demonstrieren.

Dennoch gibt es – noch – keinen Grund, seinen Rücktritt zu fordern. Leider. Er ist unsympathisch, und es würde viel Spaß machen, und man möchte so gern auf der Seite der Opposition stehen.

Aber er ist demokratisch gewählt worden, und die Rechtmäßigkeit dieser Wahl wurde weder von internationalen Beobachtern noch von Bürgerrechtlern vor Ort in Zweifel gezogen. Bisher gibt es keine Anzeichen dafür, dass er nicht bereit ist, nach Ablauf der Legislaturperiode erneut demokratische Wahlen zuzulassen. Darin unterscheidet er sich von Husni Mubarak. Es gibt in Ägypten übrigens sogar ein juristisches Verfahren für eine Amtsenthebung. Und Mursi hat nicht versucht, das auszuhebeln.

Viele Leute, darunter auch ich, finden es sehr schade, dass ein Islamist und nicht ein säkularer Bürgerrechtler zum Präsidenten von Ägypten gewählt worden ist. Aber die Mehrheit wollte das so. So ist das in einer Demokratie. Manchmal verliert man.

Man kann nicht eine Rücktrittsforderung mit mangelndem Respekt eines Amtsinhabers vor demokratischen Institutionen begründen, wenn man diesen Respekt nicht auch selber zeigt. Wie hätte die Opposition es denn gern? Möchte sie Neuwahlen erzwingen, notfalls wieder und wieder – bis endlich ein Kandidat gewählt wird, der ihr gefällt? Vielleicht wäre das gut für Ägypten. Aber mit Demokratie hätte es nichts zu tun.

Wenig hilfreich ist derzeit allerdings auch die Berichterstattung einiger ausländischer, darunter deutscher Medien. Es wäre nett, wenn das Geschwätz von einem angeblich drohenden Bürgerkrieg aufhörte. Mit einem Bürgerkrieg hat das, was derzeit in Ägypten passiert, ebenso wenig zu tun wie das, was sich in der Türkei abspielt. Wo ebenfalls von „bürgerkriegsähnlichen“ Zuständen die Rede war.

Das ist alles Unfug. In einem Bürgerkrieg muss die Opposition über ein nennenswertes Waffenarsenal verfügen – sei es, weil sie einen Teil des Militärs auf ihrer Seite hat, sei es, weil sie aus dem Ausland unterstützt wird. Beides ist weder in Ägypten noch in der Türkei der Fall. Wer von einem Bürgerkrieg faselt, erweckt – möglicherweise sogar ungewollt – den Eindruck, es herrsche Waffengleichheit zwischen Regierung und Opposition. Davon kann keine Rede sein.

Bettina Gaus ist politische Korrespondentin der taz