Lokomotiven küßt man nicht

■ Die legendäre Heinrich-Heine-Buchhandlung vor der Wiedereröffnung

Eines Nachts im November letzten Jahres unter der Hardenbergbrücke am Bahnhof Zoo: Eifrige Männer in blauen Hosen verpacken ein kleines Paradies in Kisten. Hunderte von Büchern – alte, neue, wunderschöne. Sie reißen Zeitungsausschnitte von den Wänden, die hier dreißig oder vierzig Jahre hingen, vergilbte Gesichter von Arno Schmidt, Walter Benjamin und Joseph Roth, stopfen sie in große blaue Beutel. Grelle Baustellenbeleuchtung erhellt nach furchtbar kurzer Zeit einen verstaubten, nackten Raum, wo vorher, beinahe fünfzig Jahre lang, die Heinrich-Heine-Buchhandlung war. Der Bahnhof Zoo, der in seinem neuen, spießigen Marmor- Neon-Einerlei einem x-beliebigen Vorstadtbahnhof angeglichen wird, soll ordentlich und sauber werden und eine richtige Bahnhofsbuchhandlung bekommen, mit Massenware, Plastikbüchern, Kunstbildbänden. War in den siebziger Jahren die Fußgängerzone das Terrain der Vereinheitlichung der deutschen Stadt, so ist es in den Neunzigern der Bahnhof.

Aber bevor hier in kulturpessimistische Weltenklage verfallen wird, muß doch gesagt werden: In Berlin kommt es doch nicht ganz so schlimm, weil nämlich im März, spätestens im April, die Heinrich- Heine-Buchhandlung wiedereröffnet wird. Gar nicht weit von dem Ort, wo sie früher war, immer noch unter der Brücke, nun auf der gegenüberliegenden Straßenseite. Der neue Laden wird nur wenig kleiner sein, und bei der Miete ist die Bahn der Buchhandlung entgegengekommen. Die wunderbaren Öffnungszeiten (auch sonntags und wochentags bis spätabends) dürfen beibehalten werden, und von der Verlegung eines Marmorbodens will man einstweilen absehen. Aber so wie die alte wird sie eben doch nicht sein.

Die alte Heinrich-Heine-Buchhandlung war ein richtiges Bücherkabinett, ein Finde-alles-was-man- nie-zu-suchen-Dachte, staubiges Studierzimmer, in langer Zeit gewachsenes Chaos, mit Bücherstapeln als Jahresringen. Mit alten Zeitungsausschnitten an den Wänden, einer Auswahl von neuen Büchern in der Mitte auf dem Tisch und vielen alten und seltenen Büchern irgendwo in einer Ecke des Ladens. Ein kleines verstecktes Regal gab es zum Beispiel auch, das war nur für den Übertreibungsdichter Thomas Bernhard reserviert. Die hintere Hälfte des Ladens war meistens durch ein rotes Tau abgesperrt. Hier war es hell und ordentlich, ein ganz normaler Buchladen, mit Taschenbüchern und Kunstbildbänden.

Die Heinrich-Heine-Buchhandlung wurde im Herbst 1945 von der Sowjetarmee eröffnet und war der erste Laden, in dem man im Nachkriegs-Berlin wieder Bücher kaufen konnte. Der aus dem russischen Exil heimkehrende Paul Schulz wurde als Buchhändler eingesetzt und führte das Geschäft bis 1972. Dann kam Hans Brockmann, der den Laden zu der Berliner Buchhandlung schlechthin machte. Eigentlich war Brockmann die Heine-Buchhandlung selbst, er war immer da, wußte von den entferntesten Büchern und kannte den Liegeplatz jedes Buchs unter jedem Stapel in seinem Laden. Es war zu seiner Zeit vor allem die Buchhandlung, in der sich ankommende Reisende aus der DDR ihre Lektüre kauften und von Hans alle Neuigkeiten gleich bei der Ankunft erfuhren.

Im letzten Jahr ist Hans Brockmann gestorben und hat seinen Buchladen Bernd, einem seiner Mitarbeiter, vererbt. Der hat das Erbe aber nicht angenommen, weil es doch größtenteils ein Schuldenberg war, der da zu erben war. Jetzt wird der Restbestand an Büchern bald versteigert, damit die Gläubiger doch immerhin zu einem Teil ihres Geldes kommen, und nach der Neueröffnung wird ganz von vorne begonnen.

Im Moment residiert das Bücherreich mit seinem restlichen Bestand in der Jebensstraße 12, einem Lagerraum im Bahnhofsgebäude. Nur ein kleiner Zettel an der verschlossenen Tür weist darauf hin. Man muß an eines der Fenster klopfen soll, um eingelassen zu werden. Für jemanden, der etwas Bestimmtes sucht, ist das jedoch nicht der rechte Ort, denn hier wissen Brockmanns ehemalige Mitarbeiter Lutz, Bernd und Axel, die das Geschäft jetzt gemeinsam verwalten, kaum noch bescheid. Dafür kann man auch hier noch überall Ungesuchtes finden.

Vor gut einem Jahr stand dem Bücherladen schon einmal die Kündigung ins Haus. Damals hatte, nach lauten Protesten von Heine-Stammkunden wie Christa Wolf, Volker Braun und Heiner Müller, noch der Bahn-Chef Heinz Dürr persönlich die Kündigung für ungültig erklärt. Doch nun, nach Brockmanns Tod und dem zu Tage tretenden Schuldenberg, den niemand übernehmen wollte, war der alte Standort untragbar geworden. Deshalb sind die drei Brockmann- Nachfolger mit dem neuen, kleineren Geschäft ganz zufrieden. Und auch Heiner Müller, der die Schließung seiner Lieblingsbuchhandlung als einen „Vorgriff auf die Barbarei“ gegeißelt hatte und sich bereit erklärte, jede ihm zur Verfügung stehende Lokomotive zu küssen, wenn sie gerettet würde, kann einmal tief beruhigt an der Zigarre saugen und irgend jemand anders küssen. Volker Weidermann

Der genaue Eröffnungstermin steht noch nicht fest, wird aber rechtzeitig an dieser Stelle mitgeteilt.