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Lokaljournalismus in den USAImmer vor Ort, manchmal auch nicht

Eine US-Firma bietet Geschichten aus der Nachbarschaft an. Aber die Autoren waren nie vor Ort. Nun läuft eine Debatte über Qualitätsstandards und Authentizität.

Nachrichten aus der unmittelbaren Umgebung? Bitteschön: Drei Männer sitzen im Café und lesen Zeitung. Bild: norberthZ/photocase.com

BOSTON taz | Originelle und hyperlokale – also auf die unmittelbare Umgebung des Lesers fokussierte – Geschichten verspricht der amerikanische Nachrichtendienstleister Journatic seinen Kunden. Journalisten, die die Qualitätsware produzieren, bekommen 2 bis 12 Dollar pro Geschichte.

Ein unschlagbarer Preis – auch für die Chicago Tribune. Weshalb es nicht verwundert, dass der Verlag, der 90 Webseiten und 21 Wochenblätter für jedes Viertel im Großraum Chicago herausgibt, nicht nur Kunde, sondern auch Investor bei Journatic wurde. Alles hätte also schön sein können, mit billig produzierten Geschichten für den profitversprechenden Markt des Hyperlokaljournalismus. Bis die Radioshow „The American Life“ aufdeckte, dass Journatic Geschichten mit gefälschten Autorenzeilen produziert hatte.

Neben der Chicago Tribune traf es den Houston Chronicle, den San Francisco Chronicle und die Chicago Sun Times. Ein Skandal, der eine Debatte um Qualitätsstandards und die Zukunft des Geschäftsmodells Hyperlokalität entfacht hat.

Denn wie kann ein Leser in einem Chicagoer Vorort einer Geschichte Glauben schenken von einem Autor, den es nicht gibt und der somit nie in Chicago war? Oder in Houston – wo regelmäßig ein gewisser „Chad King“ schrieb, der aber nicht existiert? „Es ist lächerlich, dass Betriebe hyperlokale Nachrichten produzieren sollen, die vielleicht Kontinente entfernt sind“, sagt Rem Rieder vom US-Medienmagazin American Journalism Review (AJR)

Chicago auf den Philippinen

Journatic hat Büros in Chicago und St. Louis und in der Regel auch einen Mitarbeiter in der Region, die mit Geschichten beliefert wird. Doch Hyperlokalität ist nicht die Maxime von Journatic-Angestellten. Sie können Geschichten von überall zuliefern – und sei es von den Philippinen, von wo freie Mitarbeiter Highshooldaten aus Chicago auswerten.

Die Tribune Company sowie mehrere andere Verlage haben die Zusammenarbeit mit Journatic vorerst beendet. „Wir werden keine Inhalte mehr von Journatic übernehmen, bis wir nicht sicher sind, dass sie den Standards der Chicago Tribune genügen“, wandte sich Präsident Vince Casanova in einem Brief an die Leser. Als Investor hat sich der Verlag allerdings nicht zurückgezogen.

Journatic reagiert nicht mehr auf Anfragen zum Thema. Am Dienstag kritisierte Gründer Brian Timpone auf der Firmenhomepage die angeblich unseriöse Berichterstattung, versprach aber auch Besserung in der „Qualitätssicherung“. Kurz nach Bekanntwerden des Skandals zitierte der Branchendienst poynter.org aus einer Mail Timpones an seine Mitarbeiter. Die Kritik bezeichnet er dort als „Nebengeräusche“ und preist die Veränderung, die das 2006 gegründete Unternehmen im Journalismus forciere.

Eine Veränderung, die vor allem der desolaten wirtschaftlichen Lage geschuldet ist. In den meisten Redaktionen droht die Zahl leerer Arbeitsplätze die Zahl der angestellten Journalisten zu übertreffen. Auf der Suche nach Profit und Lesern finden Verlage billige Drittanbieter und neue Geschäftsmodelle wie hyperlokale Nachrichten. Dabei liefern Firmen wie Journatic schnell produzierte „datengesteuerte“ Texte mit wenig Rechercheaufwand. Studien, Hitlisten, Vergleiche. Journatics Exredaktionsleiter Mike Fourcher, der die Firma nach Bekanntwerden der falschen Autorenzeilen verlassen hat, wirft ihr in seinem Blog blog.fourcher.net vor, Qualität zugunsten einer „höheren Produktivität und mehr Gewinn“ geopfert zu haben.

Masse allein jedoch macht noch kein erfolgreiches Geschäftsmodell. Dafür fehle dem Hyperlokaljournalismus derzeit die finanzielle Basis, so Rieder vom AJR. Das Ende der Billiglieferanten naht dennoch nicht, das Experiment Hyperlokaljournalismus in den USA lebt. Aufgrund der Debatte hofft Rem Riem jedoch darauf, dass sich Qualitätsstandards für Zulieferer etablieren. Denn gefälschte Autorenzeilen vertreiben nicht nur potenzielle Anzeigenkunden – sondern auch die Leser.

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2 Kommentare

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  • FM
    Frank Miener

    Das Problem liegt dort wie hier doch vor allem auch darin, dass an vielen Verlagsspitzen Kaufleute sitzen und nur auf günstigen Einkauf achten. Als freier Journalist ist man zumindest im Zeitungssektor heutzutage immer mehr zum billigen Content-Lieferanten.

     

    Das ist schade, denn wie oben beschrieben leiden der Inhalt und die Qualität. Die Autoren einfach zu erfinden, ist freilich dreist. Aber auch da gibt es ja deutsche Beispiele: Eine Nachrichtenagentur schreibt als Ortsmarke gerne mal den Ort, sagen wir Tripolis, vor die Meldung, obwohl Büro und Autor in Kairo sitzen und nicht vor Ort waren.

     

    Gut ist das nicht.

  • FK
    Fred Kirchheimer

    Ach, und das soll nur ein Problem in Amerika sein?

     

    Hier in der taz wurde dem Leser der Bericht über einen Ausflug Sarrazins nach Braunau aufgetischt.

     

    Und in einer Zeitung aus Süddeutschland pinselt des hauseigene Menschenversteher und verhinderte Pfarrer Heribert P. etwas über ein Abendessen beim Chef vom Bundesgerichtshof.

     

    Selbst miterlebt habe ich folgendes Verhalten eines Schreiberlings der o.g südd. Zeitung:

    Kurz nach Amtsantritt war Obama bei Jay Leno. Ich habe mir die Live-Show im TV angeschaut, weil ich gerade in Santa Barbara war. Nebenbei schau ich schon mal ins Internet und wundere mich, daß der Artikel zu O's Auftritt schon eingestellt war. Ein Abgleich mit dem Fernsehbild ergab, daß das letzte Drittel der Sendung im Artikel einfach nicht mehr erwähnt wurde. Wie auch, wenn der Autor seine Arbeit schon vorher als komplett verkauft. Und dafür gibt es volles Honorar? Ich nenne das Betrug.

     

    Um die gleiche Zeit habe ich mir den Film The Reader angesehn, wenige tage bevor er in die dt. Konos kam. Die Beschreibung des Films, auch in der o.g. Zeitung ließ nur den Schluß zu, daß der Schreiberling den Film nie selbst gesehen hat.

     

    Also, betrogen wird nicht nur in den USA.