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Archiv-Artikel

■ Linker Journalismus hat die Logik der herrschenden Strukturen zu hinterfragen In einem fehlerhaften Kreislauf

betr.: „Fatale Mentalität des Aufschiebens“, Kommentar von Ralph Bollmann, taz vom 20. 10. 03

Der Jugendlichkeitswahn treibt auch in Ihrer Zeitung fantastische Blüten. […] So dumme Sprüche wie „Wenn alle Menschen immer älter werden, müssen auch alle Menschen immer länger arbeiten“ hätte ich Ihnen allerdings nicht zugetraut. Wissen Sie denn nicht, dass wir schon Dreißigjährige in den Betrieben haben, die aufgrund des allseits grassierenden Leistungsdrucks herzkrank werden. Mit 40 sind es noch mehr. Wer älter ist als 50, wird sowieso rausgeekelt. […]

Und Sie können sich gar nicht vorstellen, dass der Staat sehr wohl das Geld für die Renten haben könnte, sich nur nicht darum bemüht? Wissen Sie nichts von den Unsummen, die verpulvert werden für militärische Einsätze in Kosovo, Afghanistan und anderswo und den noch größeren Beträgen der Folgekosten des Wiederaufbaus? Nie was von Steuerhinterziehung gehört, die Schumi, Becker und Konsorten treiben und so dem Staat riesige Summen klauen? Ist Ihnen völlig neu, dass die Konzerne kaum Steuern bezahlen? Keinen blassen Schimmer davon, dass die Einnahmen der Rentenversicherung durch das Heer von Arbeitslosen geschmälert werden? Nie darüber nachgedacht, wie man die Arbeitslosenquote in den Griff kriegen könnte, etwa durch Einführung der Viertagewoche? […] ARIANE BARRIE, Bochholt

Weiß Ralph Bollmann nicht, dass niemand nach Lust und Laune mit 60 aus dem Erwerbsleben in die Rente ausscheiden kann? Dass die Frühverrentung erst greift, wenn die Betroffenen unternehmensseitig bereits ins Heer der Arbeitslosen entlassen wurden? Dass die Entlassungen ohne die mit hohen Abschlägen verbundene Frühverrentung mit ganzer Wucht die jungen Beschäftigten treffen würden (vorausgesetzt, ein gewerkschaftlicher Kampf um den Erhalt der Arbeitsplätze ist nicht erfolgreich)? Dass entsprechend eine Abschaffung der Frühverrentung, die Heraufsetzung des Rentenalters, genau wie ein Roll-back der Wochenarbeitszeitverkürzung unter den gegebenen Voraussetzungen nur die Massenarbeitslosigkeit erhöhen wird und damit die Einnahmeeinbrüche bei den Sozialkassen? Merkt Ralph Bollmann wirklich nicht, dass sich die offiziellen Begründungen für die so genannten Sozialreformen rund um die Agenda 2010 und die journalistischen Nachbetereien in einem fehlerhaften Kreislauf bewegen? Dass real durch diese Maßnahmen weder die Konjunktur gefördert (schließlich brummt ja der Export, was fehlt ist doch die Binnennachfrage) noch die Massenarbeitslosigkeit reduziert, noch die Sozialsysteme (nicht einmal auf erniedrigtem Niveau) gesichert werden? […]

Ralph Bollmann & Co sehen sich offenbar als Streiter gegen Ideologien, Traditionalisten und „Besitzstandspolitik“, nur der Realität, deren Sachzwängen und Realpolitik verpflichtet. Dabei sollte es zum Grundverständnis eines linken Journalismus gehören, dass es einen ideologie- und interessenfreien Raum nicht gibt. Wem dient die Ideologie des „ ‚Wir‘ haben über unsere Verhältnisse gelebt“ (Müntefering)? Was „links“ ist? Okay, der Begriff ist vage, und niemand hat ein Patent darauf. Aber ist er deshalb schon beliebig?

Linker Journalismus hätte zumindest denen eine Stimme zu geben, die geschröpft und gedemütigt, die zunehmend in Armut, auch immaterielles Elend und Perspektivlosigkeit gedrückt werden, während Anzahl und Vermögen der Millionäre in die Höhe schnellen. […] Anschließend an Hans-Jürgen Arlt auf der Meinungsseite vom 21. 10.: Linker Journalismus darf nicht an scheinbaren „Sachzwängen“ kleben, sondern hat die Logik der herrschenden Strukturen zu hinterfragen. Die härtesten „Traditionalisten“, „Blockierer“ und Betonköpfe sitzen nicht in IGM und Ver.di. Das sind vielmehr diejenigen, die nicht bereit sind, über den Tellerrand der herrschenden Wirtschaftsordnung hinauszudenken. STURMI SIEBERS, Mitglied der IG Metall und der Dortmunder Initiative gegen die Agenda 2010

Wer keine Frühverrentung will, muss aber eine andere Frage beantworten, nämlich die, wie er sich einen 67-jährigen Hochofenarbeiter, Dachdecker oder Maurer vorstellt. Es gibt Berufe, die schon heute nicht bis zur Altersgrenze betrieben werden können; auch diesen Menschen muss eine Perspektive jenseits der Sozialhilfe gegeben werden. Hinzu kommt, dass auch das von den öffentlichen Arbeitgebern fröhlich betriebene Outsourcing, zum Beispiel bei Reinigungsdiensten, erhebliche Absenkungen des Lohnniveaus zur Folge hat, was die davon Betroffenen als Rentner zu Sozialhilfefällen macht, womit die öffentliche Hand auf Kosten zukünftiger Generationen spart. KLAUS SAMER, Wuppertal

Ja, wo sollen denn die Menschen arbeiten? Bei Aero Lloyd? Bei der Deutschen Bahn, die tausende von Arbeitsplätzen einsparen will? Bei der Energieversorgung Baden-Württemberg, die demnächst entlässt? Bei den Großbanken? Beim Land Hessen? Selbst Ver.di verschlankt. […]

Die Gesellschaft ist im Wirtschaftsbereich schon lange aus dem Lot. Wir haben die höchste Arbeitsproduktivität aller Zeiten, und trotzdem haben viele Menschen Geld- und Arbeitsplatzsorgen. Wir brauchen nicht mehr so viel Arbeit, um uns zu versorgen. Wir brauchen ein gerechtes Verteilungssystem, das dafür sorgt, dass alle in angemessenem Umfang Arbeit haben und ausreichend Geld für ihre Arbeit erhalten. Da leider nicht jeder parlamentarische Abgeordneter werden kann, muss Arbeitszeitverkürzung und gerechtere Einkommensverteilung erwirkt werden. Ich bin auch für andere gute Ideen dankbar, die eine kritische Zeitung hervorbringt. Aber bitte nicht die Antiquitätensammlung der konservativen Wirtschaftswissenschaftler herunterbeten. Das überlasst bitte euren Feinden – die übrigens auch massenhaft Personal entlassen (haben). MARGOT KLEIN, Mannheim

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