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Liege du mal sterbend auf der Erde und sehe als letztes in ein paar Fressen, die das spannend finden, dass du da jetzt abtrittst. Gaffer sind SchmeissfliegenMenschen mögen das Grauen

Foto: Lou Probsthayn

Fremd und befremdlich

KATRIN SEDDIG

Am Sonntag habe ich zu viel Zeit auf der Autobahn verbracht und bin knapp dem Tod entronnen, als ein LKW plötzlich ohne Blinken auf unsere Spur schlenkerte. Andere hatten weniger Glück als wir, es gab heftige Unfälle, die Autobahn war stundenlang gesperrt und da standen wir, wartend und wartend und uns darüber unterhaltend, warum sich Leute übermäßig darüber empören können, dass ein Wolf ein Schaf reißt, dass es aber alle hinnehmen, dass ständig Menschen umkommen, weil sie Auto fahren. Gegen das Autofahren kann man nichts sagen, in diesem Land, gegen Wölfe schon.

Wenn man dann an so eine Unfallstelle kommt, wo Wohnmobile im Graben liegen, wo Autos vollkommen zusammengedrückt sind, dann hofft man, dass alles schon vorbei ist, dass die Verletzten längst versorgt und die Toten weggeschafft sind, dass man kein Blut mehr sehen muss, dass man sich nicht ausmalen muss, was geschehen ist. Denn das will man nicht. Man will so etwas Schreckliches nicht sehen. Oder doch?

Menschen sind verschieden. Menschen mögen mitunter das Grauen, wenn es sie nicht selbst betrifft. Menschen besuchen ja auch das Hamburg Dungeon, wo sie die Qualen von Menschen aus vergangenen Zeiten imaginieren können, Menschen, die gefoltert wurden, die verbrannt sind. Menschen können sich sowas zum Spaß ansehen. Ist das eine vergnügliche Sache, wenn das Unglück vorbeizieht? Ist es aus der Ferne unterhaltsam? Oder geht es um den Grusel, das Schaudern, das auch ein Edgar Alan Poe inszenierte?

Dem kann ich schon was abgewinnen. Aber bei Edgar Alan Poe steht man irgendwie mittendrin, ist es der eigene Schmerz, der eigene Tod, die eigene Angst, letztendlich die eigene Existenz. Es ist ein Hineingehen in einen Raum, der im Sonnenschein des Alltags geschlossen bleibt, es geht um Vollständigkeit, um Tiefe und auch um Schönheit.

Dem, der sich an einem Unglücksort aufstellt, um zu sehen, was da Spannendes passiert, wer da schreit, blutet, stirbt, der das mit seinem Handy aufnimmt, um das später auch anderen, oder der ganzen Welt zeigen zu können, dem geht es nicht um eine Auseinandersetzung mit den eigenen Ängsten, dem geht es in etwa um das, was man im Hamburg Dungeon fühlen kann, um eine Art Erleichterung darüber, dass man selbst nicht schreit, blutet, stirbt.

Man nennt ihn den Gaffer und er behindert oft die Leute, die berufsmäßig helfen müssen. Wer behindert, muss bestraft werden, das ist vermutlich gesellschaftlicher Konsens. Dafür müssen vielleicht auch bessere Gesetze geschaffen werden. Boris Pistorius (SPD), Niedersachsens Innenminister, möchte das Strafgesetzbuch ändern. Er findet es abstoßend, wie solche Leute sich verhalten, wenn sie am Unfallort rumstehen und Fotos machen oder auch einfach nur gucken. Auch das Gucken findet er abstoßend. Ich finde das Gucken auch abstoßend. Liege mal sterbend auf der Erde und sehe als Letztes in ein paar Fressen, die das spannend finden, dass du da jetzt abtrittst.

Schrei du mal vor Schmerzen und das vor Leuten, die das interessiert. Tu das mal vor Leuten, die ihr Handy auf dich halten. Es geht mir oft zu weit, wenn die Presse filmt und fotografiert, gerade jetzt, wo Bilder von toten Kindern am Strand durch die Zeitungen gehen. Aber das hat vielleicht noch einen Sinn. Das dient einem guten Zweck, der Information und der Aufklärung.

Wir müssen das tote Kind am Strand vielleicht sehen, um uns vorstellen zu können, was die Flucht über das Mittelmeer für die Menschen bedeutet. Der Journalist hat einen beruflichen Auftrag, wie der Sanitäter und der Feuerwehrmann. Der Gaffer fühlt sich auch berufen, will sich aber nur selbst was Gutes tun. Er ist eine Schmeißfliege.

Katrin Seddig ist Schriftstellerin in Hamburg mit einem besonderen Interesse am Fremden im Eigenen. Ihr jüngster Roman „Eine Nacht und alles“ ist bei Rowohlt Berlin erschienen.

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