Liebling der MassenUli Hannemann : Die wollen anscheinendnicht gewählt werden
Fast wäre ich achtlos vorbeigegangen. Denn ganz klein und bescheiden hat jemand mit schwarzem Filzer an die Holzverkleidung des Kreuzberger Bioladens gekritzelt: „Grün ist schon besser als CDU, aber es ist auch nicht das Wahre.“ Um der Essenz dieser Botschaft gerecht zu werden, muss man sie sich mit leiser, stockender Stimme vorlesen. Auf ein Wahlplakat gedruckt, würde sie alle anderen Plakate vollständig ersetzen.
In den Geisterbahnen, die dieser Tage unsere Straßen sind, grinst von jedem Laternenmast ein Schreckgespenst, darunter jeweils eine linkische Nullbotschaft. „Nie gab es mehr zu tun.“ „Respekt für dich.“ „Zuhören und Zutrauen.“ So etwas könnte man ebenso mit Zuckerguss auf Lebkuchenherzen schreiben, an Klowände, auf Milchtüten oder über die Eingangstür eines Meditationszentrums. Sympathische Do-it-yourself-Mentalität, Sparsamkeit und Selbstironie in allen Ehren, doch der offensichtliche Verzicht auf fähige PR-Agenturen und das übergroße Vertrauen in die Pfiffigkeit der eigenen Praktikanten erweist sich hier als Rohrkrepierer. Ist das noch Hybris oder schon Dummheit?
„Über hundert Sprachen. Und eine Stimme gegen rechts“, prahlt zum Beispiel die SPD die Friedrichstraße rauf und runter. Dass sich angesichts so vieler Sprachen nur ein einziger Mensch mit Anstand findet, ist erschreckend. Das stünde vielleicht einer Nazi-Partei gut zu Gesicht, die sich sagt, „die eine Stimme, diesen schwärenden Spreißel in unserem Volkskörper, werden wir auch noch los“, der SPD als vormals linker Partei jedoch eher nicht.
„Ganz Berlin ein Park“, fordert wiederum die Klimaliste. Und wo sollen wir dann wohnen? „Alle 5 Stimmen CDU“, befiehlt ein anderes Plakat ohne Angabe von Gründen. Für Argumente hat doch eh keiner mehr Zeit.
Der gegenseitige Unterbietungswettbewerb legt nahe: Sie wollen anscheinend nicht gewählt werden. Auf den ersten Blick verständlich: Politiker sind die Prügelknaben und -mädchen der Nation; auch ohne konkreten Anlass (deren es ja durchaus genügend gäbe) wirft man ihnen gern pauschal Unfähigkeit, Eitelkeit und Desinteresse vor. Sie sind verhasster als Zuhälter und Immobilienmakler. Dem Volk fehlt jeder Respekt vor ihnen. Sie werden auf den Titelseiten der Zeitungen beschimpft, in den sozialen Medien verspottet und in Satiresendungen durch den Kakao gezogen. Politikerbashing ist ein beliebterer Volkssport als Fußball. Wer möchte sich das antun?
Doch andererseits stimmt immerhin das Schmerzensgeld. Denn selbst wer nach ein paar Jahren aus dem Karussell der Macht fliegt, landet weich auf einem dicken Geldberg. Nicht wenige werden bis an ihr Lebensende alimentiert wie altersschwache Lawinenhunde. Und da ihr dickes Fell gegen Anfeindungen jeder Art komplett imprägniert ist, lohnt sich ein Wahlsieg doch zumindest persönlich.
Der wäre womöglich leichter zu erringen als gedacht. Wahrscheinlich würde es den Bürgern schon reichen, nicht immer bloß zur Sau gemacht zu werden. Dass, wenn sie krank sind, jemand kommt und ihnen heiße Schokolade zubereitet. Eine Wohnung, Arbeit, Abtreibung. Gute, bezahlbare, legale Rauschgifte. Dass ihre Kinder und Enkel nicht verbrennen, verhungern und verdursten. Oder wenigstens mal einfach nur die Wahrheit.
So wäre es endlich an der Zeit, im angespannten Verhältnis zwischen Politik und Bürgern ein völlig neues Kapitel zu eröffnen, das von schonungsloser Ehrlichkeit, abgefedert durch ein schwarzhumoriges Augenzwinkern, geprägt ist. „Es ist ölf nach Zwölf“ steht auf den neuen Plakaten, „Wir werden alle sterben“, und der absolute Renner: „Es gibt viel zu tun. Packen wir ein.“
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