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Archiv-Artikel

Liebe geht durch den Magen

Auch ein Roman über die Magersucht, vor allem aber Popliteratur im besten Sinne: „Zuckerbabys“, der Debütroman der Popjournalistin Kerstin Grether

VON TOBIAS RAPP

Dieses Buch zu schreiben muss eine Qual gewesen sein. Nicht dass man ihm das anmerken würde. Gar nicht. Es verpackt all den Schmerz, der am Anfang gestanden haben dürfte, all die Überlegungen, wie viel von dem Seelenleben seiner Protagonistin es eigentlich preisgeben möchte, in die rettende Schönheit seiner Sätze, in die erstaunliche Leichtigkeit seiner Sprache. Trotzdem muss es eine Qual gewesen sein. Denn es erzählt so überzeugend die Geschichte eines Gefühls existenziellen Ungenügens, dass man sich an drei Fingern abzählen kann, wie schwierig es gewesen sein muss, diesem Gefühl eine Form zu geben, die vor ebendieser Angst, nichts wert zu sein und nichts zu können, bestehen kann.

Da ist Sonja. 23 Jahre alt und mit Weltverschönerung beschäftigt: Tagsüber sitzt sie vor einem Agenturcomputer und verleiht Modelgesichtern durch Entfernen kleinerer Hautunebenheiten jene überirdische Schönheit, mit der sie einen dann aus ihren Fotostrecken anlachen. Abends ist sie eine von keinem größeren Erfolg gesegnete Comiczeichnerin und geht zu ihrer Gesangslehrerin, weil sie eigentlich Rockstar werden möchte. Aber durch Gesangsunterricht wird natürlich niemand Rockstar. Dafür braucht es Schönheit und Coolness; und genau daran mangelt es Sonja, so glaubt sie zumindest. Und wenn man das glaubt, dann ist es ja auch so. Sie fühlt sich hässlich und dick, und all das, was den anderen Szenegestalten, die ihr über den Weg laufen, der Musikjournalistin, dem Model, dem Sänger, den Mitgliedern einer Girl Group, so mühelos zuzufliegen scheint, ist Sonja kategorisch versperrt.

Es fängt mit dem demütigenden Erlebnis an, in einer Boutique den begehrten Rock mehrmals zurückgeben zu müssen, um ihn eine Nummer größer noch einmal anzuprobieren („Dann laufe ich wieder in meine Toilettenzelle, ziehe den kostbaren Rock über den wertlosen Arsch und hänge ihn fein säuberlich zurück“), und bewegt sich rasch in die für Sonja einzig gangbare Richtung: einfach nichts mehr zu essen außer einen Apfel pro Tag. Aber auch wenn sie thematisch eine zentrale Rolle spielt: „Zuckerbabys“ ist kein Roman über Magersucht. Natürlich kann man ihn so lesen, aber man muss es nicht. Magersucht ist nur die Schaltstelle, in der sich all die verschiedenen Begehrensebenen verschränken, die durch Sonjas Körper wabern. Und hier kommt Pop ins Spiel, denn im Grunde ist „Zuckerbabys“ vor allem Popliteratur im besten und damit in fast jedem Sinne. Nicht nur weil nebenbei die Gründung und der Aufstieg einer Mädchenrockband erzählt wird und das gesamte Personal des Buchs in der einen oder anderen Weise an das soziale System Pop angedockt ist.

Auch formal lässt der Roman kaum ein Genre der Populärkultur aus: Musik, Vorabendserien, Teenieromane, Comics, Musikfernsehen, Werbung – alles wird von Kerstin Grether mit der gleichen Bedingungslosigkeit umarmt und verwurstet. Tatsächlich trifft sich genau hier die Magersucht der Protagonistin mit dem emphatischen Popbegriff der Autorin. Die ja selbst ehemalige Spex-Redakteurin, nunmehrige MTV-Mitarbeiterin, Intro-Kolumnistin und sporadische Autorin dieser Zeitung ist. Hier lässt jemand an seine Haut nur Wasser und CDs. Es geht nicht um Distinktion, es geht um alles. Diese Liebe zur Popkultur geht durch den Magen.

Pop ist für Sonja Leben – als ihr Freund sie für eine andere sitzen lässt, fährt Sonja ihn an: „Garbage überproduziert finden, aber eine aufgetakelte Tussi wie Melissa cool.“ Dementsprechend sind ihre hasserfüllten Gedanken über den zynischen und menschenverachtenden Schönheitszirkus, der die Popkultur ja auch ist, nur die Rückseite jenes tief empfundenen Verlangens, selbst zu genau diesen Bedingungen in diesem Zirkus aufzutreten. Der Popbegriff, den Grether für ihre Protagonistin in Anschlag bringt, ist von bedingungsloser Ergebenheit. Wie kleine Seifenblasen steigen in einem fort Songzeilen aus den Tiefen ihrer Seele hervor, werden identifiziert und als Orientierungshilfen in die Welt hinausgesummt.

Das Einzige, was man gegen dieses Buch einwenden könnte, ist, dass der dramaturgische Bogen der Geschichte nur angetäuscht ist. Zu impressionistisch sind die einzelnen Szenen mitunter aneinander getupft. Was umso erstaunlicher ist, als viele Szenen sich lesen wie dreckige Varianten amerikanischer Teenie-Soaps, und wenn es irgendwo stereotype Handlungsabläufe gibt, dann dort. Doch über diese kleinen Abgründe lässt man sich durch Kerstin Grethers in langen Jahren journalistischer Fron angesammelte Bonmots gerne tragen.

Kerstin Grether: „Zuckerbabys“. Ventil Verlag, Mainz 2004, 204 Seiten, 11,90 Euro