Lidokino: Die Farben sind raus
■ Spike Lees „Clockers“ – ziemlich düster & praktisch sexfrei
Noch immer ist ganz Venedig voll mit Bildern und Skulpturen zum Thema „Identität, Alterität“, wie berichtet das Leitmotiv der diesjährigen Biennale. Die zentrale Ausstellung im Palazzo Grassi endet, nachdem man also durch hundert Jahre weißer Leiden gegangen ist, direkt unter dem Glasdach mit den Skulpturen zweier auf der Empore hockender, riesiger, nackter, schwarzer Kerle: ein echter Hingucker, wie der Chef sagen würde.
So ähnlich haben Spike Lees Filme funktioniert, wenn sie auf europäischen Filmfestivals auftauchten. Mit „Clockers“, seinem Venedig-Beitrag, war das nun irgendwie nicht so. Die Farben sind raus, der Film ist in einem düsteren Blaumetallicgrau gehalten; statt Rap hört man Geigen, die nach Versöhnung fragen; Gitarrenklänge (!), was Gezupftes. Is he depressed or what? Das Comichafte von früher, das zu seiner Art Lehrfilm gehörte, ist einem Gemälde gewichen, einem Triptychon, wie Scorsese sie malt, mit der Hölle im mittleren und größten Bild. Scorsese hat diesen Film auch mitproduziert. Harvey Keitel spielt darin einen guten weißen Cop namens Rocco Klein („You're Italian or Jewish, can't you make up your mind?“) von der Mordkommission, der entsprechend alle drei Tage in der Nachbarschaft ist. Der Film beginnt mit einer langen, tristen
Bilderreihe schwarzer Leichen; Erschossene meist, manche auf der Straße, manche im Bett, hinterm Steuer, manche haben sich im Sterben über ein Straßengeländer gehängt. Spike Lees Guernica.
„Clockers“ sind Dealer. Vorgestellt wird Strike, der für einen angenommenen „Vater“ einen Mord an irgendeinem kleinen Ladenburschen begehen soll. Nun entfaltet sich in aller Ruhe, was man aus sämtlichen Ghettofilmen kennt: Schwacher Teenager, böser Einfluß, starke Frauen und der eine gute Mann. Kinder, die mit großen Augen zusehen, für die man sich benehmen muß; klar. Alle können diesen Film unterschreiben; das mag für einen John Singleton angehen, von Spike Lee wirkt so was wie eine gestreckte Waffe.
In der Rubrik „Das fiel uns auf“: Je mehr „Fuck“ in einem Film gesagt wird, desto weniger wird gefickt. „Clockers“ ist praktisch sexfrei.
Die Italiener haben als Filmfans eine Art Camp-Geschmack. Während Götz George hier komplett unbeachtet blieb, mußte bei der Ankunft von Joan Collins deren Einflugschneise im Casino abgesperrt werden. Der Italiener schrie und tobte.
Das galt auch für die Pressekonferenz Wenders-Antonioni, bei der Antonioni eigentlich nur noch als eine Topfpflanze seiner selbst stumm dasaß und göttliche Würde verströmte, von der ein ganz kleines bißchen auch an unserem Wim hängenblieb. Zu Recht wies Kollege Martenstein vom Tagesspiegel auf den Vampirismus hin, der zu verzeichnen ist, wenn Wenders in jedem seiner letzten Filme irgendeinen alten Mann auslutscht: Sam Fuller, Curt Bois, Heinz Rühmann, Manoel de Oliveira, Antonioni. Martenstein rät: Bringt Wilder in Sicherheit!
Komischerweise hatte Agnes Vardas Hommage an ihren verstorbenen Mann, den Filmemacher Jacques Demy, überhaupt nicht diesen Charakter. Demys Filme scheinen hingegen nochmals in dem Licht auf, in das sie gehören: als absolut einzigartige Verbindung von amerikanischer Musicaltradition mit der Nouvelle Vague, dem poetischen Realismus und manchmal sogar dem Arbeiterfilm. Einer, den ich nie gesehen hatte, spielt in Cannes: Jeanne Moreau, schön wie nie, geht ins Casino. Mariam Niroumand
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