Lesung mit Charlotte Roche: "Bild ruiniert Menschen"
"Bildblog" zeigt Widersprüche in Deutschlands größter Tageszeitung auf. Bei einer Lesung wunderten sich Betreiber und Stargast Charlotte Roche über das Publikum.
BERLIN taz Der Bild-Slogan besagt, dass jede Wahrheit einen Mutigen brauche, der sie ausspreche. Charlotte Roche scheint seinen Wortlaut verinnerlicht zu haben. Sie sagt über Bild, mal ganz abgesehen von all den Dingen, die abzudrucken möglicherweise viel Geld kosten würde: "Bild ruiniert Menschen." Sie sagt, sie halte die Zeitung für "ganz grässlich". Und sie könne nie darüber lachen. Ihr Publikum aber hat sich kurz zuvor schief gelacht - über Bild. Und Roche sagt: "Das hat mich doch gewundert."
Sie ist der Stargast einer Veranstaltung, die sich der größten deutschen Boulevardzeitung widmet - aus der Perspektive der Kritiker. Stefan Niggemeier und Christoph Schultheis, die Macher von Bildblog, haben Roche in den Berliner Fritz-Club eingeladen, der zehn Minuten nach Öffnung der Abendkasse ausverkauft ist. Hunderte sind da.
Es liegt nahe, Roche zu einer Bildblog-Lesung einzuladen, weil sie - die selbst einmal von Journalisten erpresst wurde, wie sie sagt, die sich (so der juristisch akzeptable Wortlaut) "als Bild-Mitarbeiter ausgaben" - 2006 als Gast bei Harald Schmidt bekannt hatte, Fan des Blogs zu sein.
Auf www.bildblog.de sammeln Schultheis, einst bei der taz, und Niggemeier ihre "Notizen über eine große deutsche Boulevardzeitung". Denn, so heißt es auf der Seite: "Was heute in der Bild-Zeitung steht, steht morgen überall. Vielleicht sollte man sich also mal genauer anschauen, was sie schreibt. Die kleinen Merkwürdigkeiten und das große Schlimme." An diesem Abend lesen Roche, Niggemeier und Schultheis aus ihrem Blog vor. Es ist einer jener Abende aus der Kategorie "Powerpoint-Karaoke" (ist ja jetzt Pop) oder "Fußball-Nerd-Quiz" (ist ja jetzt Bildung). Ein leicht auf die Metaebene gehobenes Unterhaltungsprogramm eben, mit Bier und hinterher dicken Beats aus den Boxen.
Die Bildblogger lesen einige der merkwürdigen Bild-Geschichten, in denen als Quellen Menschen wie "Deutschlands seriösester Archäo-Ufo-Forscher" zitiert werden; Geschichten etwa über den Weltuntergang (am "25. Mai", "in 96 Jahren?", "2029" - alles Bild-Zeilen) oder über "Eis-Dinos" in Alaska vor 75 Millionen Jahren (wo es damals kein Eis gab). Aber sie lesen auch einige der unverantwortlichen Geschichten aus Bild, um die es Bildblog auch - oder vor allem - geht. Eine über einen Forscher, der laut Bild "aus Katzen" Benzin mache (obwohl er eigentlich - wie dieselben Autoren zuvor schon geschrieben hatten - aus Müll Biodiesel herstellt). Niggemeier sagt: "Das ist rufschädigend für das Unternehmen."
Oder eine, die von einem Vorfall in einem Kinderhort handelt, in dem ein Kind aufgeknüpft worden sein soll ("Tatort Schule - Sie wollten meinen Jungen in der Turnhalle aufhängen"). Die Polizei sagte später, der Junge habe sich möglicherweise selbst an einer Hängematte verletzt und danach weiter gespielt. Bild korrigierte das nie. Roche sagt nach der Veranstaltung: "Da wird der Ruf eines Horts zerstört." Frappierend ist jedoch, dass das Publikum nicht nur über die pointierten Kommentare von Bildblog lacht, sondern - selbst im Fall des Hort-Artikels - schon über die Primärquelle: Bild.
Bildblog, das auch dank prominenter Unterstützer wie Roche, Anke Engelke und Christoph Maria Herbst 50.000 Leser pro Tag hat, feilt steile Boulevard-Thesen Schicht um Schicht ab, weist auf Widersprüche hin, auf unlautere Methoden und auf Denkfehler von Autoren, die sich ziemlich weit rechts aus dem Fenster lehnen. An diesem Abend wird so auch eine "Post von Wagner" gelesen, der sich an "türkische Schüler" wandte: "Wenn Deutschland zu Eurem Land werden soll, dann müßt Ihr fließend Deutsch sprechen. Oder Ihr übernehmt die Rolle der Indianer in Amerika. Straßenräuber, Drogenkranke, Geächtete." Bildblog kommentierte: "Hoppla. Die Rolle der Indianer in Amerika ist es, zugedröhnt unschuldige Leute zu überfallen? Wissen das die Indianer? () Da kommt man natürlich ins Grübeln, wie die amerikanische Geschichte verlaufen wäre, wenn die Indianer sich nur rechtzeitig an die Gepflogenheiten ihres Gastlandes Moment: Gastland?"
In diesem Stil kommentiert Bildblog Bild, je nach Tagesform gut lesbar bis unterhaltsam - aber im Kern ist es den Machern ernst: Das Blog, sagt Niggemeier, sei 2004 "aus der Haltung heraus entstanden, dass es nicht geht, Bild nur als Witzblatt wahrzunehmen". Nach diesem Abend stellt sich die Frage neu: Soll man sich gegen den Reflex wehren, über Bild zu lachen und sie so - eventuell - zu verharmlosen? Die "Vehemenz des Amüsements", sagt Schultheis, habe ihn jedenfalls "überrascht". Oder muss man, wie vor 40 Jahren, einen Konsens darüber anstreben, dass Bild Teufelswerk sei?
Vielleicht ist das aber die falsche Frage. Die Bildblog-Leserschaft bestehe, sagt Niggemeier, aus "20-Jährigen, die ernsthaft gegen Bild kämpfen, andererseits Unterhaltung suchen".
An diesem Abend trifft sich also eine nicht bis ins Nachtprogramm hinein politisierte Generation - aber doch ein Milieu, in dem Bereitschaft zu politischem Denken besteht. Charlotte Roche hat auch ein Milieu-Motto vorrätig: "Jetzt rocken wir mal die Scheiße aus der Schaukel!"
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Historiker Traverso über den 7. Oktober
„Ich bin von Deutschland sehr enttäuscht“
Grünen-Abgeordneter über seinen Rückzug
„Jede Lockerheit ist verloren, und das ist ein Problem“
Elon Musk greift Wikipedia an
Zu viel der Fakten
Hoffnung und Klimakrise
Was wir meinen, wenn wir Hoffnung sagen
Nach dem Anschlag in Magdeburg
Das Weihnachten danach
Der Fall von Assad in Syrien
Eine Blamage für Putin