■ Lesetip: Rassenbegriff ohne genetische Begründung
Den „Gral der Humangenetik“ nannte der Biologe und Nobelpreisträger Walter Gilbert das Genom, die Summe aller Erbanlagen in den Zellen des Menschen. Während die biologischen Gralsritter vor allem die Zukunft im Blick haben, um neue medizinische Therapie- und Diagnoseverfahren zu entwickeln, entschlüsselt ein anderer Zweig der Molekularbiologie die Vergangenheit des Menschen. Als einer der führenden Forscher auf diesem Gebiet gilt Luigi Luca Cavalli-Sforza. Der 72jährige Genetiker, der noch heute an der kalifornischen Stanford University lehrt, erkundet seit vierzig Jahren die biologische Menschheitsgeschichte. Im Buch „Verschieden und doch gleich“ gibt er jetzt Rechenschaft über sein Lebenswerk – als Koautor betätigte sich sein Sohn Francesco.
Cavalli-Sforza kommt im Laufe seiner Analyse zu einem denkwürdigen Schluß: „Bei der Gattung Mensch ist die Anwendung des Begriffs ,Rasse‘ völlig unsinnig.“ Die so augenfälligen Unterschiede zwischen AfrikanerInnen und EuropäerInnen, AsiatInnen und australischen UreinwohnerInnen seien nur auf wenige Gene zurückzuführen – eine Anpassungsleistung der Natur an unterschiedliche klimatische Gegebenheiten. Die genetischen Differenzen zwischen zwei Individuen könnten viel größer ausfallen als die zwischen Angehörigen verschiedener „Rassen“.
Beträchtlich erscheint jedoch die Kluft zwischen der Brillanz seiner wissenschaftlichen Schlußfolgerungen und der Naivität, mit der Cavalli-Sforza gesellschaftspolitische Konsequenzen formuliert. „Der Rassismus ist eine soziale Krankheit, die wir nicht auf angemessene Weise verhindern oder heilen können“, schließt die Analyse. Also gelte es, Fremde vor rassistischen Übergriffen zu schützen, indem man sie gar nicht erst einwandern lasse. „Wir müssen die Demut haben einzuräumen, daß wir jenen Grad an gesellschaftlicher Reife, der eine unbegrenzte Einwanderung gestatten würde, noch nicht erreicht haben.“
Die wissenschaftliche Autobiographie gibt ferner Auskunft über die Einlösung eines alten Desiderats der Biologie: „Wenn wir einen vollkommenen Stammbaum der Menschheit besäßen, würde eine genealogische Ordnung der Menschenrassen die beste Klassifizierung der Sprachen erlauben, die heute in der ganzen Welt gesprochen werden“, konnte Charles Darwin nur vermuten. Cavalli-Sforza aber erbrachte den Beweis. Seine Stammbäume, auf der Basis molekularer Analysen erstellt, stimmen überraschend gut mit neueren Systematiken der über 5.000 verschiedenen menschlichen Sprachen überein. Genetische Distanz und sprachliche Differenzen verweisen auf die Entwicklungswege in der frühen Menschheitsgeschichte – ein gelungener Brückenschlag zwischen den Disziplinen, Ahnensuche in Sprachen und Genen. Andreas Sentker
Francesco und Luigi Luca Cavalli-Sforza: „Verschieden und doch gleich“. Droemer Knaur, München 1994, 445 S., 44 DM
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