piwik no script img

■ Leonid Gosman, Mitglied des Präsidialrates, über Jelzins Tschetschenien-Politik und ihre Folgen für Rußland„Die Gefahr eines Putsches ist akut“

Leonid Gosman ist Vorstandsmitglied der liberaldemokratischen „Wahl Rußlands“, der Partei des früheren russischen Ministerpräsidenten Jegor Gaidar.

taz: Was erklärt die blamable Vorführung der Armee in Grosny?

Gosman: Drei mögliche Erklärungen: Erstens: Die gesamte Unternehmung leidet an einem totalen Mangel an Koordination. Die Kommandeure verschiedener Ministerien machen sich gegenseitig Konkurrenz. Nicht etwa, um ihren Job möglichst gut zu erfüllen, vielmehr um ihn nicht zu machen. Zweitens: Es ist klar, daß man mit Spezialeinheiten gegen ein ganzes Volk, das Widerstand leistet, auch nichts ausrichten kann. Ein derartiger Krieg läßt sich nur schwer gewinnen. Drittens: Man denkt, die Gefahr für die Macht in Moskau sei so groß, daß die Führung des Landes bevorzugt, Spezialeinheiten in direkter Nähe zu haben.

Gibt es noch eine Chance, die verheerendsten Folgen des Kriegszugs für die innenpolitische Entwicklung Rußlands abzufangen? Oder folgt der Kriegslogik automatisch ein autoritäres Regime?

Bei einer hundertprozentigen Niederlage wie bisher müßte man eigentlich die gesamte Sache abblasen und anders herangehen: Truppen abziehen und mit Dudajew Verhandlungen aufnehmen. Schließlich ist es sein Sieg. Andererseits kontrollieren die Russen einen großen Teil Tschetscheniens, Dudajew hat das auch mit zu bedenken. In diesem Szenario müßte Verteidigungsminister Gratschow sofort abdanken. Noch vor kurzem höhnte er, nur ein Idiot führe mit Panzern Krieg in einer Stadt. Oder man bringt den Krieg zur Eskalation und tötet jeden, macht die Stadt dem Erdboden gleich, kurz to finish it off. Grosny unterlag dem heftigsten Luftbombardement seit dem Zweiten Weltkrieg. Mich beunruhigen die wiederholten Hinweise, Tschetschenen setzten chemische Waffen ein. Daran glaube ich nicht. Wohl eher will man damit den eigenen Einsatz vorbereiten. Innenpolitisch folgt daraus zwangsläufig eine Diktatur, mir scheint das auch das eigentliche Ziel zu sein. Um Tschetschenien, Dudajew oder ähnliches ging es ja nie. Keiner herrscht jemals allein. Nicht mal Stalin tat das, auch wenn es nach außen so wirkte. Leute wie Innenminister Jerin, Verteidigungsminister Gratschow, Jelzins Leibgardist Korschakow und andere Offiziere sind alle für sich bereit, das Land zu regieren, nach Maßgabe ihres Verständnisses von „Führung“.

Der Westen windet sich, will Jelzin nicht zu nahe treten. Den innenpolitischen Machtaspekt verdrängt er völlig. Könnte Druck von außen etwas bewirken oder ...

Zurückhaltung ist der traditionelle Weg, den der Westen gegenüber Rußland verfolgte und immer wieder einschlägt. Ich halte ihn für falsch. Jedesmal wenn der Westen sich eingemischt hat, war es schließlich zum Wohl des Landes. Wer könnte in Rußland ihm gegenüber negative Gefühle hegen? Nur jene, die ihn abgrundtief hassen und schon immer alles verabscheut haben, was westlich war.

Und der Präsident?

Es wäre falsch, Jelzin allein im Licht der letzten Tage zu sehen. Schließlich war er es, der in entscheidenden Momenten Demokratie und Pressefreiheit verteidigt hat. Außerdem möchte er im Westen anerkannt werden. Daher könnte eine negative und entschiedene Haltung des Westens zu seiner jetzigen Politik sehr hilfreich sein.

... aber Jelzin hat sich doch durch und durch diskreditiert, selbst nach eine Läuterung traut ihm doch kein Russe mehr ...

Die größte Niederlage hat die Regierung an der Propagandafront erlitten. Jelzins Prestige lag nie so niedrig mit fünf Prozent Zuspruch. Die Öffentlichkeit lehnt diesen Krieg ab, trotz der geschürten Hysterie und Panikmache, es sei mit tschetschenischen Terroranschlägen zu rechnen, glaubt keiner der Propaganda. Das ist ein Erfolg. Die Menschen mögen gar nicht mal gegen den Krieg schlechthin sein, aber gegen seine ineffektive Durchführung. Daher unterstützen sie eine Änderung in der Tschetschenienpolitik. Ob das dem liberalen oder radikalen Lager zu Buche schlägt, läßt sich schwer sagen. Die Gefahr eines Militärputsches ist mehr als akut, es kann morgen, übermorgen oder erst in ein oder zwei Wochen geschehen. Konkrete Hinweise besitzt keiner. Das Militär hat aber nur einen Ausweg, sich von dieser Schande reinzuwaschen, indem es die an der Macht schuldig spricht.

Was unternimmt „Wahl Rußland“, um die Öffentlichkeit stärker zu mobilisieren?

Wir versuchen, eine möglichst breite Basis gegen den Krieg zu schaffen, ungeachtet der politischen Couleur. Mit den Kommunisten arbeiten wir daher auch zusammen. Die Kriegsopfer brauchen unbedingt Schutz. Gleichzeitig wollen wir auf Neuwahlen hinarbeiten, unsere 225 territorialen Parteibezirke sind ziemlich aktiv. Dann gilt es, eine Sondersitzung der Duma einzuberufen und einige Verfassungsänderungen durchzuboxen.

Ganz wichtig ist die Verabschiedung eines Gesetzes, das jenen eine Sicherheit bietet, die am Krieg aktiv beteiligt waren. Sonst wird Nationalitätenminister Jegorow alle Tschetschenen zu Banditen erklären und sie erschießen lassen.

Interview: Klaus-Helge Donath

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen