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Archiv-Artikel

Lebensabschnitt der Woche Das Alter: kein Ort für Memmen

„Old School“: Das Hamburger Kulturzentrum Kampnagel hinterfragt stereotype Bilder vom Altsein

Ilse Helbich erzählt, wie spannend es sein kann, sich selbst zum Rätsel zu werden

Es ist ein fremdes, unbekanntes Land, in dem sich Ilse Helbich ganz plötzlich wiederfindet. „Mit einem Schlag bin ich sehr alt geworden, in einer Verfassung, die meinen Lebensjahren – ich war 87 – entspricht“, beginnt die österreichische Publizistin und Schriftstellerin ihre „Erkundungen“ im „Grenzland Zwischenland“, so der Titel ihres im letzten Jahr erschienenen Prosabandes (Droschl 2012, 128 S., 18 Euro).

Vor allem erzählt Helbich, die erst spät im Alter von 80 Jahren ihren ersten autobiografischen Prosatext „Schwalbenschrift. Ein Leben von Wien aus“ veröffentlicht hat, von der Faszination jenes Neuen, „das da hereingebrochen ist. Unabweisbar.“ Erzählt, wie spannend es sein kann, sich selbst zum Rätsel zu werden; dass sich das Leben im immer kleiner werdenden „Zwischenland“ ganz neu entdecken lässt; wie sie den Emotionen mehr denn je ausgeliefert ist und dabei das Gefühl hat, in ursprüngliche Schichten vorzudringen. Und wie erstaunlich befreiend es ist, die Richtung zu wechseln und sich dem Weggehen zuzuwenden.

Aber auch die zunehmenden körperlichen Einschränkungen, die „zu aller Auflösung drängenden Kräfte“ – das voranschreitende Versagen der Sinnesorgane, die Mühe, die das Gehen plötzlich bereitet, wie sich zur Vergesslichkeit allmählich die Verwirrung gesellt – protokolliert Helbich in konzentrierten Sätzen so furchtlos und plastisch wie mit lakonischer Gelassenheit. „Das Alter“, zitiert Helbich Schauspiel-Diva Bette Davis, „ist kein Ort für Memmen.“

Auf der Grundlage von Texten Helbichs und mehr als 70 Interviews mit alten Menschen bringt das Projekt „Dem Weggehen zugewandt“ des interdisziplinären Hamburger Künstlerkollektivs Union Universal um die Regisseurin Maria Magdalena Ludewig in Zusammenarbeit mit dem Solistenensemble Kaleidoskop und der italienischen Demenz-Forscherin und Komponistin Manuela Kerer nun Erzählungen aus diesem unbekannten Land als Musiktheater für einen rund 50-köpfigen „Chor der Alten“, sechs Darsteller und ein Streichorchester auf die Bühne.

Zu hören ist das Stück ab Donnerstag im Rahmen des Themenschwerpunktes „Old School – Von Alten lernen“ des Hamburger Kulturzentrums Kampnagel. Drei Tage lang sollen dort künstlerische, wissenschaftliche und persönliche Perspektiven auf das Alter und das Altern in der Gesellschaft zusammengeführt und stereotype Bilder vom Altsein hinterfragt werden.

Im „Casino für den Lebensabend“ der Performance Force Hamburg lässt sich da mit großen – und mitunter gezinkten – Spielkarten zum Likörchen die Rente verschwenden. Ein „Archiv der Untoten“, entstanden aus 60 Stunden Aufnahmen vom Kongress „Die Untoten – Life Sciences & Pulp Fiction“ vor zwei Jahren, präsentiert als mobile Installation Positionen von Philosophen, Filmwissenschaftlern oder Bioethikern zur Frage, was noch oder schon lebendig, noch oder schon tot ist.

Am Samstag widmet sich ein ganztägiges Vortragsprogramm schließlich Themen wie der Wirkung von Musik auf Menschen mit demenziellen Prozessen oder den Herausforderungen bei der Haarpflege. Ganz praktisch vermittelt etwa ein Friseurworkshop, wie man Menschen, die es nicht mögen, dass ihnen jemand lange am Kopf herumfummelt, trotzdem einen „schönen Kopf“ verpasst.

Spannend verspricht auch das Projekt der Dramatikerin Nina Ender und des Schlingensief-Schauspielers Stefan Kolosko zu werden: Ein Jahr lang hat das Duo für seine „Hamletanstalt“ in Hamburger Dementenstationen recherchiert und den „Archetypus“ eines Altenheimes konzipiert, in dem nun auf der Grundlage eines Textes von Ender unter anderem ein dementer Regisseur „Hamlet“ im Nationalsozialismus inszeniert.

ROBERT MATTHIES

■ Do, 16. 5. bis Sa, 18. 5., Kampnagel, www.kampnagel.de