■ Lafontaines neueste Provokation ist wenig hilfreich, sie verängstigt nur eine tief gespaltene Gesellschaft: Fahrlässiger Umgang mit Begriffen
Oskar Lafontaine gehört ohne jeden Zweifel zu den Politikern, die wissen, daß es in der Politik keineswegs nur auf den sachlich richtigen Vorschlag ankommt. Politik als sozialer Prozeß unterliegt dem Wandel der Zeiten; für die späten achtziger Jahre kann der Saarländer in dieser Hinsicht zu den wichtigen Modernisierern gezählt werden. Wie er damals durch allerlei Provokationen eine satte Gesellschaft immer wieder darauf aufmerksam gemacht hat, daß sie ihre Grenzen erreicht und überschritten hat, das war medial geradezu genial.
Wer Lafontaines jüngste Vorstellung also säuberlich getrennt behandelt – hier die Sache, dort der Stil –, beurteilt diesen Politiker unter dessen Niveau. Wer ihn ernsthaft mißt, muß fragen, was sein Vorstoß zu den Ostlöhnen und -renten in den beiden deutschen Teilgesellschaften ausgelöst hat – und kann nur bei einem klaren Verdikt landen. Das wiederum wird keineswegs dadurch gemindert, daß Lafontaine tatsächlich eine banale Wahrheit ausgesprochen hat. Es ist eher ein bißchen peinlich, wie Lafontaine sich in diesem Fall mit dem Lorbeer des mutigen Politikers schmückt. Denn daß die Einkommen in den neuen Ländern nicht im gleichen Tempo weiterwachsen können wie bisher, das haben andere schon längst vor ihm ausgesprochen. Erinnerlich ist zum Beispiel eine Initiative von Wolfgang Thierse, für die der ostdeutsche SPD-Politiker so viel Schelte aus den eigenen Reihen bezogen hat, daß er klein beigegeben hat. (Erinnerlich ist übrigens nicht, daß Lafontaine sich damals demonstrativ vor, neben oder hinter Thierse gestellt hätte.)
Hat Lafontaine eine Debatte darüber ausgelöst, wie die Löhne und Renten im Osten wachsen können oder nicht? Keineswegs. Die kann ohnehin mit Aussicht auf einen vernünftigen Konsens nur geführt werden, wenn im gleichen Atemzuge über die Einkommen im Westen geredet wird. Thema sind vielmehr west-östliche Ungerechtigkeiten aller Art, tatsächliche und vermeintliche. Ist es wirklich eine „ungerechte“ oder nur eine schiefe Entwicklung, daß die Frauen im Osten höhere Renten beziehen als die im Westen? Ungerecht ist und bleibt doch wohl, daß das (nunmehr gesamtdeutsche) Rentensystem nur die Erwerbsarbeit honoriert.
Der feine Unterschied ist nicht allein deshalb wichtig, weil auch die ostdeutschen Frauen nach Lage des Arbeitsmarktes ihr kleines Privileg bald verlieren werden. Jeder ungenaue Umgang mit dem Begriff der Gerechtigkeit ist fahrlässig, denn in Ost- wie in Westdeutschland grassiert ein böser Verdacht. Während viele im Osten glauben, ihnen stünde mehr zu, als die im Westen bereit sind zu geben, breitet sich im Westen in Lichtgeschwindigkeit das Gefühl aus: die nehmen ja nur. Diese Gefühle hat Lafontaine bestens bedient.
Das Deutschland von 1993 ist keine Gesellschaft mehr, die Provokationen à la Lafontaine braucht und verträgt. Was vor fünf oder zehn Jahren geeignet war, die guten Bürger zum Nachdenken zu bringen, verängstigt heute nur. In diesem Fall hat Lafontaine die Satten nicht aufgerüttelt, sondern bestätigt. Seine Methode ist in einer tief gespaltenen Gesellschaft gefährlich – und altmodisch. Tissy Bruns
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