L'État c'est moi (XI): Das Dilemma von Demokratien
Die Finanzkrise und der Klimawandel zernagen das "endlose" Selbstbewusstsein der Moderne: Demokratische Staaten müssen ihr zukunft-verzehrendes Zeitregime überwinden.
Die Arbeitsgruppen, die gerade den Koalitionsvertrag für die schwarz-gelbe Regierung aushandeln, bilden getreu die ministeriellen Ressortzuständigkeiten ab. Dass Regierungsbildungen einer schweren Wirtschaftskrise eingefahrenen Ritualen folgen, könnte beruhigen, würde sich der aus dieser Krise rührende Änderungsbedarf auch im Regierungsprogramm niederschlagen und würden Querschnittsthemen berücksichtigt.
Da das kaum passieren wird, ist Routine eher ein Alarmzeichen - anachronistische Wahlversprechen wie Steuersenkungen und Verlängerung von AKW-Laufzeiten werden gnadenlos durchgezogen, der Klimawandel findet am Kabinettstisch nicht statt.
Diese Kurzsichtigkeit ist ein Beleg für den eingeschränkten Zeithorizont, den sich Politik in Demokratien in der Regel gibt. Mittel- und Langfristiges bleibt auf der Strecke, auch wenn es eine überwältigende Mehrheit der Deutschen anders wünscht; laut Umfragen erwarten sie von der neuen Regierung, ehrgeizige Klimaziele im Koalitionsvertrag festzuschreiben und diese demnächst in Kopenhagen in ein weltweites Klimaabkommen einzubringen. Das Volk denkt weiter als seine Regierung, denn es hat sich herumgesprochen, dass Klimaschutz kein Randthema ist, sondern sich durch alle Ressorts durchziehen müsste.
Die Vermeidung gefährlichen Klimawandels verlangt also nicht weniger als eine Generalrevision des politischen Normalbetriebs auf nationaler wie globaler Ebene.
Auch wenn Kassandra heiser sein mag: Die Physik des Klimawandels lässt nicht mehr viel Zeit. Binnen ein bis zwei Legislaturperioden müssen die Staaten weltweit jene radikale Reduktion auf den Weg bringen, die ab 2020 greifen muss, damit um 2050 (ein bis zwei Generationen weiter) die Treibhausgasemissionen auf null kommen. Gelingt das nicht, leben unsere Enkel in einer Vier-(oder sogar mehr)-Grad-Welt mit höchst unangenehmen Seiten.
Diese neue Zeitrechnung ist eine Provokation für liberale Gesellschaften, die sich mit "der Natur" fertig wähnten und stets einen (trotz aller Katastrophen und Rückschläge) nach vorne offenen Möglichkeitsraum vor sich sahen. Die Moderne, wissen wir von Karl Löwith, entnaturalisierte das Wachstum und begradigte eine bis dahin zyklisch vorgestellte Geschichte. Sie bekam einen Sinn und eine Richtung, öffnete sich in immer bessere und planbare Zukünfte. Die konservative Gegenfigur der Endlichkeit (des wirtschaftlichen Wachstums, der natürlichen Ressourcen, der verfügbaren Zeit) zernagt das "endlose" Selbstbewusstsein der Neuzeit.
Diese Begrenzung, die seltsam quer liegt zur räumlichen Entgrenzung nationaler Staatlichkeit in der Globalisierung, muss auch den politischen Alltagsbetrieb irritieren. Sein Zeitrhythmus ist kurzatmig auf die jeweilige Legislaturperiode ausgerichtet, die sich durch Wahlkämpfe und langwierige Inauguralphasen neuer Regierungen noch weiter verkürzt; Effekte permanenter Wahlkampagnen schränken die Perioden effektiven Regierungshandelns noch mehr ein. Eine markt- und unternehmensnahe Politik orientiert sich überdies an volatilen Quartalsbilanzen und Börsenkonjunkturen und unterwirft sich dem Diktat monatlicher Meinungsumfragen und Beliebtheitsskalen.
Dieser hektische "shortermism" (Anthony Giddens) steht im Widerspruch zur dilatorischen Kompromissbildung in Verhandlungsdemokratien, die schwer lösbare Probleme auf die lange Bank schieben und bei Reformagenden wie demografischem Wandel, explodierenden Gesundheitskosten, Fiskalkrise und Massenarbeitslosigkeit regelmäßig auf Zeit spielen. Der performative Widerspruch demokratischer Staatlichkeit (und ein Grund für den Verfall ihrer Legitimität) liegt also darin, dass Megaprobleme durch nervöse politische Kommunikation latent gehalten, Lösungen dafür aber ad calendas graecas vertagt werden - so scherzte der römische Kaiser Augustus über die Griechen, die keinen Zahltag kannten und die Begleichung ihrer Schulden auf den Sankt-Nimmerleins-Tag verschoben. Die Zwillingskrise der Finanzen und des Klimas führt vor, dass wir alle Griechen sind, allen voran der Imperator in Washington.
Dilatorische Politik ist wohlgemerkt nicht per se ein Übel. Zeitgewinn ist für die Bewahrung von Stabilität oftmals erforderlich, die unvermeidbaren Kontingenzen und der wünschenswerte Pluralismus moderner Gesellschaften erlauben kein klares "Durchregieren". Die unaufhebbare Zukunftsunsicherheit moderner Gesellschaften wird deswegen in Ritualen der Konsensfindung und Routinen der Aushandlung kaschiert, denn die politische Macht verfügt ebenso wenig wie der Markt über eine "systemeigene Wirkungstechnologie, die es erlaubte, Ressourcen zu dosieren und Fehler zu erkennen" (Niklas Luhmann).
Wer die berühmten dicken Bretter bohren will, muss gelegentlich abwarten und aussitzen, bis sich Dinge eventuell von selbst erledigen, Interessenlagen ändern, Gemüter beruhigen, die Wähler vergessen oder resignieren. Dissensmanagement durch Kompromiss nennt das der Frankfurter Rechtstheoretiker Klaus Günther; bei Materien wie der Abrüstungspolitik und der Abtreibungsgesetzgebung hätte es wenig gebracht, den gordischen Knoten einfach durchhauen zu wollen. Aufschieben und Abwarten wird meist aber einfach damit gerechtfertigt, dass die Wachstumsdynamik kapitalistischer Ökonomien und die sozialstaatliche Inklusion "morgen" (oder spätestens übermorgen) Gelegenheit zur Lösung aufziehender Verteilungskonflikte bieten wird.
Daher die Fixierung auf materielles Wirtschaftswachstum, diese Zivilreligion der OECD-Welt: Diskontierung entschärft akute Machtkämpfe. Mit diesem Mechanismus des Zukunftsverzehrs ist das moderne Zeitregime in die Struktur der Staatlichkeit eingewandert, die nun in dem Teufelskreis steckt, dass Volkswirtschaften schon deswegen weiter wachsen müssen, damit Staaten die Zinsen für die Schulden bezahlen können, die sie gemacht haben, um Wachstum zu erzielen und Wohlstand für alle zu erzeugen.
Das ist das Dilemma von Demokratien: Dilatorische Strategien des Abwartens und Vertagens schützen vor den Illusionen identitärer Demokratie, die von Rousseau bis Carl Schmitt auf einen demokratiefeindlichen Dezisionismus hinausliefen und heute auf den "starken, hart durchgreifenden Zuteilungsstaat" alias Ökodiktatur, die der kommunistische Dissident Wolfgang Harich schon 1975 als Ausweg aus der ökologischen Krise propagierte.
Zugleich aber stellt die Klimakrise die Erbschaft der bürgerlichen Revolution mit ihrem Fortschritts- und Wachstumsoptimismus infrage - und damit bewährte Politikmuster des Durchwurstelns. Die Absorption von Unsicherheit und die Besänftigung von Konflikten durch Zeitspiel sind an klare Grenzen gestoßen, wenn sich Verteilungsfragen in Überlebensfragen und "normale Katastrophen" (Charles Perrow) in nackte Gefahren zurückverwandeln. Man kann sich vorstellen, welch eine narzisstische Kränkung das für die "Macher" in der Politik bedeutet.
Wer diese Aporie herausstreicht, ist noch lange kein Verächter der Demokratie - im Gegenteil. Wir werden nicht müde herauszustreichen, dass Klimaschutz (und andere politische Maßnahmen zur Restabilisierung des Erdsystems) einen technologischen Quantensprung und supranationale Regulierung erfordern, dadurch allein aber nicht erreichbar sein werden. Unabdingbar ist die Mitwirkung des Souveräns, also eine politische Bewegung, die Nachhaltigkeit zu einer identitätskonkreten Praxis guten Lebens erhebt.
Und wir betonen auch, dass gerade die Sicherung von Zukunft Chancen bietet, die eine bloß gefühlte Partizipation in der Mediendemokratie zu einer echten Beteiligung werden zu lassen. Doch darf sich eine nachhaltige Gesellschaft in ihren Zeitvorstellungen nicht mehr auf den prometheischen Entwurf unbegrenzter Machbarkeit stützen und den industriellen Metabolismus bloß grünwaschen.
Unser Standpunkt ist somit das Futurum zwei, die vollendete Zukunft: Wie möchten wir in den Augen unserer Kinder und Kindeskinder im Jahr 2009 gewesen sein? Es wäre zu hoffen, dass dieser vorsorgliche Gedanke, der die Überlegungen und Lebenswelt von immer mehr Menschen leitet oder wenigstens berührt, auch die politischen Eliten ergriffe. Wahrscheinlich haben sie keine Zeit dafür.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Kinderbetreuung in der DDR
„Alle haben funktioniert“
Hybride Kriegsführung
Angriff auf die Lebensadern
BSW in Koalitionen
Bald an der Macht – aber mit Risiko
Dieter Bohlen als CDU-Berater
Cheri, Cheri Friedrich
Niederlage für Baschar al-Assad
Zusammenbruch in Aleppo
Sport in Zeiten des Nahost-Kriegs
Die unheimliche Reise eines Basketballklubs