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Archiv-Artikel

LEXIKON DES MODERNEN UND UNMODERNEN FUSSBALLS Abstauber, der

liebt Fußball und schreibt darüber

Christoph Biermann

Zu Beginn seiner Karriere, in der Gerd Müller zum größten Torjäger in der Geschichte des deutschen Fußballs wurde und noch bevor ihn ein kleiner dicker balkanischer Trainer namens Tschajkovski liebevoll „kleines, dickes Müller“ nannte, fragte er sich, wie es für ihn im Leben eigentlich weitergehen sollte. Nachdenklich ließ Müller den Blick durch die Werkstatt schweifen, in der er seine Ausbildung zum Weber machte und wo er auf Arbeit wartete. Viel war dort nicht zu tun, weil es seinem ehrwürdigen Berufsstand zu Anfang der sechziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts schon ziemlich schlecht ging. Die Auftragsbücher waren leer und der Meister oft mies gelaunt, weshalb er Müller mitunter so übellaunig wie gänzlich unberechtigt als Faulenzer beschimpfte.

Unversehens fiel dem kommenden „Bomber der Nation“ beim Nachsinnen über seine Situation der Webstuhl in den Blick und die Wollmäuse, die sich dort angesammelt hatten. Das war es! Eilig schlüpfte Müller aus der Werkstatt, eilte über die Gassen seiner Heimatstadt Nördlingen nach Hause und schnappte sich den schönen Staubwedel aus Straußenfedern, den seine Mutter schon lange benutzte, und lief schnell wieder zurück. Mit großem Eifer staubte er den Webstuhl ab, und als der Meister zurückkam, war die ganze Werkstatt so sauber wie nie zuvor. Der Chef staunte, und so gelobt wie an diesem Tag wurde Müller noch nie. Für den jungen Gerd stand in diesem Moment sein Entschluss fest: Abstauben sollte seine Mission werden.

Auch auf den Sportplatz des TSV Nördlingen 1861 nahm er diesen Vorsatz mit und schoss jeden Ball, der im Strafraum von den Verteidigern übersehen, falsch berechnet oder sonst wie liegen gelassen wurde, ins Tor. 1961 erzielte er so in einer Saison die ganz und gar unglaubliche Zahl von 198 Toren. Er sorgte dafür, dass die gegnerischen Strafräume immer blitzeblank waren und ihn schließlich der FC Bayern München unter Vertrag nahm, wo alles seinen weltberühmten Gang nahm.

Das Abstauben ist eine ausgesprochen unterschätzte Tätigkeit, obwohl sie doch einer gehörigen Raffinesse bedarf. Wer weiß schon, dass man die Rippen von Heizkörpern dadurch vom Staub befreien kann, dass man hinter die Heizung ein feuchtes Tuch hängt und von vorn den Staub mit einem Fön hineinbläst? Sind sich eigentlich alle darüber im Klaren, dass ideales Abstauben immer von oben nach unten und von rechts nach links erfolgt? Und wer weiß schon, wie man Trockenblumen, Gewürzbilder oder die Rückseiten von Buchregalen entstaubt?

Im gegnerischen Strafraum muss man sich zwar über die Wahl der richtigen Feudel keine Gedanken machen und es sind dort auch keine Steckdosen für den Einsatz eines Föns zu finden, aber dort Staub ordentlich aufzuwirbeln, erfordert nicht weniger Kunst. Gerd Müller gelang das vor allem durch seine verblüffenden Drehungen auf so kurzen wie massiven Beinen, was noch jeden Verteidiger völlig durcheinander brachte.

Zur Vervollständigung dieser Kunst bedarf es neben eines starken Reinlichkeitsdrangs vor allem einer hochentwickelten Balance aus Geistesgegenwart und gezielter Gedankenlosigkeit, denn die wesentliche Erkenntnis aller Abstauber auf dem Fußballplatz heißt: Sobald du anfängst zu denken, ist der Ball schon weg. Oder wie Lothar Emmerich einmal sagte: „Ich habe nie lange gefackelt, sondern die Kartoffel immer sofort auf die Bude geballert.“

Vermutlich muss man sich den Abstauber daher als einen Schamanen des Spiels vorstellen, der bei Anpfiff in einen tranceartigen Zustand fällt und in diesem konsequent vor sich hin müllert. Dafür spricht auch, dass die großen Abstauber, denken wir neben Gerd Müller nur an den ehemaligen Glasbläser Klaus Fischer oder die Kobra Jürgen Wegmann, in ihrer Karriere nach dem Fußball nicht mehr so auffällig wurden, weil ihr Talent zur Trance in einer anderen Realität als der des Fußballs nicht recht gebraucht wurde. Aber zu Hause gibt es ja zum Glück auch immer was abzustauben.