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Archiv-Artikel

LESERINNENBRIEFE

Das Paradies ist anderswo

■ betr.: „Tallinner wählen kostenlosen Nahverkehr“, taz v. 27. 3. 12

Neidvoll entnehme ich der taz, dass Tallinn freies Fahren anbieten wird … welch Paradies! Ebenso wie Prag, wo mein Mann und ich kürzlich waren – und wir sind seither Fans vom ÖPNV dort. Straßenbahnen fahren 24 Stunden, tagsüber alle vier Minuten, nach Mitternacht halbstündlich. Man fährt für ca. 1 Euro eine halbe Stunde, egal wohin, egal wie oft man umsteigt. Es gibt für alle (auch für Touristen) außerdem Tickets für 24 und für 72 Stunden, man kann damit selbstverständlich auch Metro, Busse und die Seilbahn benutzen. Keine Preisstufen von A bis E, keine komplizierten Websites, die für ausländische Gäste absolut unverständlich sein dürften, keine Fahrplanwechsel mehrmals am Tag wie bei uns – und wir wohnen im Ruhrgebiet, genauer, in einer Stadt mit nahezu einer halben Million Einwohnern, die als Teil einer „Möchtegern“-Ruhrstadt hochstilisiert wird.

Ich fahre gerne Rad, auch zur Arbeit. Es macht nur oft keinen Spaß, stets um sein Leben fürchten zu müssen, weil wieder wer beim Abbiegen nicht blinkt oder mit Haaresbreite Abstand an mir vorbeirast. Oder weil viele Radwege immer noch in schlechtem Zustand sind oder plötzlich enden. Sicher kann ich auch den Bus nehmen. Der ist morgens überfüllt, weil trotz gleichen Unterrichtsbeginns an mehreren Schulen nicht mehr Busse eingesetzt werden; Umsteigen kostet mich bis zu 15 Minuten Wartezeit, und teurer wird das Ganze ständig. Fahre ich mit dem Bus zum örtlichen Bahnhof (um von da zum Hauptbahnhof zu kommen, von dem ich dann mit der Straßenbahn weiterfahren muss), kommt der Bus so an, dass der Zug gerade weg ist und ich eine halbe Stunde warten muss. Was soll das? Wer plant da? Ich glaube, ein Umsteigen auf den öffentlichen Personennahverkehr ist gar nicht gewollt. Wenn diese Fakten nur aus einer anderen Perspektive betrachtet werden müssen, muss ich mich schon ganz schön verbiegen, um das „schönzusehen“.

SANDRA HEGMANNS-PFEIFER, Duisburg

FDP entdeckt den Mindestlohn

■ betr.: „0,1 Prozent Neuausrichtung“, taz vom 29. 3. 12

Die 0,1 Prozent neue Pflegereform betrifft auch ca. 600 000 Pflegekräfte, für die ab 1. 4. 12 nicht mehr der „ortsübliche“ Tarif (West bis zu 16,73 Euro und Ost bis zu 16,11 Euro pro Stunde), sondern der „Mindestlohn“ von 8,75 Euro und 7,75 Euro pro Stunde (Ost) gelten soll. Da entdeckt die FDP den Mindestlohn. In Pflegeheimen arbeiten zu 88 Prozent Frauen (ambulante Pflege: 85 Prozent). Angesichts des gewerkschaftlichen Organisationsgrads hier muss man fürchten, dass mit der künftigen „Zulassung von Einrichtungen, die unter den Geltungsbereich des Mindestlohns“ fallen, auch die Bezahlung sich verstärkt an Ver.dis „unterster Haltelinie“ orientieren wird ! „Die fairen Chancen für Frauen“, die Familienministerin Schröder am „Equal Pay Day“ ansprach, werden mit dieser Entdeckung des Mindestlohns durch FDP-Minister Bahr kaum realistischer.

PETER HACKELBERG, Berlin

Schlecker nicht systemrelevant?

■ betr.: „Schlecker-Frauen alleingelassen“, taz vom 29. 3. 12

Warum tun sich Bund und Länder so schwer, für die insolvente Schlecker-Drogeriekette in Form einer Auffanggesellschaft in Höhe von 71 Millionen Euro zu bürgen? Für marode Banken, EU-Schuldenstaaten, Opel, Arcandor, Schaeffler etc. war dies doch auch kein Problem. Hier wurden Billionen Euro innerhalb kürzester Zeit bewilligt und zur Verfügung gestellt. Oder ist die Schlecker-Gruppe etwa nicht systemrelevant? Sind es die arbeitenden Menschen von Schlecker, die um ihren Arbeitsplatz bangen, daher nicht wert, per Rettungsschirm gerettet zu werden? Ich meine, aufgrund der im Grundgesetz verankerten Menschenwürde sollte die Schlecker-Gruppe wie die Hypo Real Estate und die Commerzbank wenigstens vorübergehend verstaatlicht werden, damit die Arbeitsplätze bei Schlecker erhalten werden können. ROLAND KLOSE, Bad Fredeburg

Genauer und informativer

■ betr.: „Späte Väter. Der ist doch noch gut“, taz vom 28. 3. 12

Ein bisschen genauer bzw. informativer könnte es beim Heranziehen wissenschaftlicher Belege ja nun doch zugehen. „So sollen Kinder älterer Väter einen geringeren Intelligenzquotienten haben als die jüngerer Männer“. Der Artikel aus Psychology Today von Paul Raeburn, auf den Sie sich wohl beziehen (genaue Quellenangaben zu Studien sind im deutschen Pressewesen ja verpönt), fährt bei der Darstellung der entsprechenden Studie allerdings fort, dass die Unterschiede nur klein waren und niemand weiß, ob die Kinder nicht aufholen, wenn sie älter werden. Hält die taz Intelligenzunterschiede für von Geburt an festgehämmert und eingemeißelt?

Sie schreiben von vermehrtem Auftreten diverser Krankheiten. Konkrete Raten zu nennen ist von Bild bis taz in solchen Fällen ja auch wieder verpönt. Ich zitiere mal aus dem Bezugsartikel: zum Beispiel steigt womöglich das Risiko für eine spätere schizophrene Erkrankung von 1/100 auf 2/100. Als Fakt erwähnenswert, oder nicht? Sie zitieren unkommentiert die Behauptung der Studie aus dem Familienministerium (S. 78 dort), dass spätes Vaterwerden ein Statussymbol geworden sei. Leider wird diese Behauptung, anders als viele andere in derselben Studie, mit keinerlei empirischen Befunden, Befragungsdaten oder was auch immer unterfüttert und gestützt.

Wenigstens die abscheugetränkte Polemik von Anna Schorch, die genau weiß, was alle Menschen in verschiedenen Lebensabschnitten zu tun und zu lassen haben, sorgt da noch für ein wenig Erheiterung. MICHAEL SPECKA, Bochum