LESERINNENBRIEFE :
Eine bemerkenswerte Schieflage
■ betr.: „Vorhaut schutzlos“ u. a., taz vom 14. 7. 12
Die Diskussion über die nichtmedizinisch begründete Beschneidung von Jungen zeigt eine bemerkenswerte Schieflage. Alles dreht sich um das Verständnis für die Täter und ihre Entlastung. Es mangelt an Empathie für das Leid der Opfer und Anstrengungen zu ihrem Schutz. Das Elternrecht und das Recht auf freie Religionsausübung kann kein Freibrief sein für die irreversible Körperverletzung Schutzbefohlener. Die Beschneidung stellt für viele Neugeborene, und Kinder ein tiefgreifendes lang nachwirkendes traumatisches Erlebnis dar. Eltern lieben ihre Kinder. Wir sollten die Eltern aufklären über das nicht vernachlässigbare Operationsrisiko, das Leid, das ihren Kindern zum Teil angetan wird (Schmerzen, Nachblutungen, Potenzprobleme durch Narbenbildungen, irreversible Einschränkung des genitalen Empfindungsvermögens), mögliche psychische Langzeitfolgen (Belastung der Eltern-Kind-Beziehung, Gefährdung der Entwicklung zu einer angstfreien sexuellen Identität), die fehlende Stichhaltigkeit angeblicher gesundheitlicher Vorteile unter deutschen Gesundheitsstandards und die Möglichkeit selbstbestimmter Beschneidung im jungen Erwachsenenalter. Wir sollten den Eltern Mut machen, sich gegen das soziale Diktat archaischer religiöser Riten zu stellen. Wir sollten sie erinnern, dass in Europa in den letzten 200 Jahren viele alte inhumane Praktiken bei Kindern aufgegeben wurden: die Verstümmelung von Bettlerkindern, die Kastration von Sängerknaben, die auch in Deutschland praktizierte Beschneidung onanierender Mädchen, die Sterilisation Minderjähriger, die stillschweigende Duldung von Misshandlung, Missbrauch und körperlicher Züchtigung in Institutionen und der Familie sowie die operative Korrektur eines intersexuellen Genitals im Säuglings- statt im Erwachsenenalter … Auch Religionen unterliegen dem historischen Wandel. FRIEDRICH MANZ, Kinderarzt, Dortmund
Sehr befremdlich
■ betr.: „Vorhaut schutzlos“ u. a., taz vom 13. 7. 12
Während in Deutschland nicht nur Frauenrechtlerinnen Verbrechen gegen die Menschenrechte im Namen der Ehre und die archaische Praxis der Genitalverstümmelung bei Mädchen zu Recht verurteilen und die deutsche Justiz Zwangsverheiratung als schweren Fall von Nötigung unter Strafe stellen, verhält es sich aktuell bei der Beschneidung von Jungen aus traditionell religiösen Gründen ganz anders. Das finde ich als Mensch und als Frauenrechtlerin sehr befremdlich. Die Bundesregierung möchte kein Beschneidungsverbot. Anzuerkennen und einen breiten Diskurs darüber zu führen, dass die Unversehrtheit der Person, die Würde des Menschen und das Recht auf Selbstbestimmung als Menschenrecht für alle gilt, lässt die Frage einer gesetzlichen Regelung offen. Aber von hochoffizieller Seite aus religiösen Gründen Beschneidungen, also Körperverletzungen an Jungen, als hinnehmbar auszulegen, halte ich für eine Hoffähigkeitserklärung menschenverachtender Praktiken im Namen von Tradition, Ehre und Religion. Auch Jungen und Männer dürfen sich für oder gegen Manipulationen am Körper entscheiden, wenn diese Übergriffe medizinisch überflüssig und sie volljährig sind. Babys jedoch können nicht darüber entscheiden, ob sie aus Tradition oder Weltanschauung der Eltern ihrer körperlichen Unversehrtheit beraubt werden dürfen, indem ihre Klitoris oder ihr Penis beschnitten wird. ANNE GREFER, Solingen
An Traditionen nicht festhalten
■ betr.: „Vorhaut schutzlos“ u. a., taz vom 14. 7. 12
Die Religionsfreiheit ist ein hohes Gut, aber es kann nicht sein, dass das Recht auf körperliche Unversehrtheit damit außer Kraft gesetzt wird. Aus diesem Grund darf in Deutschland auch ein Piercing oder eine Tätowierung erst ab 16 Jahren – trotz Einverständnis der Eltern – durchgeführt werden. Auch das Beschwören jahrtausendealter Traditionen hilft hier nicht weiter. Was war nicht alles schon Tradition auf diesem Erdenrund oder ist es noch: Steinigung von Frauen, Zwangsehen, Hexenverbrennung, Todesstrafe für ledige Mütter, Vergraben eines lebenden Hundes beim Deichbau, ius primae noctis usw. Gott sei Dank muss man an Traditionen nicht festhalten, wenn ausreichend viele empathiefähige Menschen zu der Erkenntnis kommen, dass diese kulturellen Praktiken grausam sind oder das Selbstbestimmungsrecht des Individuums missachten.
ANJA HALLERMANN, Braunschweig
Diktat von Religionen
■ betr.: „Vorhaut schutzlos“ u. a., taz vom 14. 7. 12
Es ist unerträglich, mit welchen Übertreibungen auf das Urteil des Kölner Landgerichts reagiert wird. Dieses Urteil dient keineswegs dazu, irgendwelche Religionen in die Illegalität abzudrängen oder deren Leben in Deutschland unmöglich zu machen. Beschneidungen können jederzeit vorgenommen werden – am erwachsenen Mann, der selbstständig über einen invasiven Eingriff ohne medizinische Indikation entscheiden kann. In diesem Urteil wird dem Wohl des Kindes Vorrang gegeben. Es gibt genügend neurobiologisch-psychologische Erkenntnisse über die psychischen Auswirkungen medizinisch notwendiger invasiver Eingriffe bei einem Kleinkind; Kleinkinder können noch nicht rational den ihnen zugefügten Schmerz einordnen. Es ist mir unverständlich, dass Politiker jedweder Couleur sich von religiösen Fanatikern erpressen lassen und Grundrechte – insbesondere das Grundrecht auf Unversehrtheit an Leib und Seele – hintenanstellen und dem Diktat von Religionen unterordnen.
INSA KLINGBERG, Balingen