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Archiv-Artikel

LESERINNENBRIEFE

Legitimierter Protestzug

■ betr.: „500 Kilometer gegen die Residenzpflicht“, taz vom 5. 10. 12

Dass die sogenannte Residenzpflicht „europaweit einmalig“ ist, ist wohl wahr. Warum aber ist das so? Die einschlägigen Bestimmungen im heutigen Asylverfahrensgesetz und in der Ausländerpolizeiverordnung aus dem Jahre 1938 belegen durch ihre weitgehende Wortgleichheit: Die „europaweit einmalige“ Residenzpflicht verdankt sich unserer faschistischen Vergangenheit und richtete sich vor allem gegen Zwangsarbeiter, wenn sie angetroffen wurden, „ohne im Besitze einer schriftlichen Genehmigung ihrer zuständigen örtlichen Polizeibehörde zu sein, wonach sie berechtigt waren ihren Wohnort zu verlassen“ (Polizeiliste 1944). Ihre historische, eindeutig rassistische Herkunft legitimiert den Protestzug der Flüchtlinge gegen Aufenthaltsbeschränkung und Lagerunterbringung mit allem Nachdruck. MICHAEL STOFFELS, Kempen

Schämt sich denn niemand?

■ betr.: „Die Deutschen aufrütteln“, taz vom 5. 10. 12

Scheint eine Eigenart unserer Bürokraten zu sein, recht- und hilflose Menschen zusätzlich noch zu drangsalieren, weil sie selber an ihrem Unglück schuld seien. Sie hätten ja nicht herkommen müssen. Da wird mir schon klar, warum das Dritte Reich so gut menschenfeindlich funktionierte: nach oben buckeln und nach unten treten. Schämt sich denn niemand unserer Politiker, die sonst doch so gern das „Menschenrecht“ hochhalten und die christliche Tradition? Und sich für Hotelbesitzer und Waffenlieferanten einsetzen – und die Asylbewerber ignorieren? VANTAST, taz.de

Die Wirkung beunruhigt

■ betr.: „Herrenmenschenmode“, taz vom 4. 10. 12

Erik Wenk bemerkt über die Werbung der Firma Boss, dass das abgebildete männliche Model im Trenchcoat gut aussieht – trotz der Ähnlichkeit zur Frisuren- und Kleidungsmode der historischen Nazis. Wenk spricht von „beunruhigender Ästhetik des Faschismus“. Ich meine nicht, dass die Ästhetik beunruhigend ist. Vielmehr beunruhigt es, dass sie auf uns wirkt. Wir schämen uns, weil wir von der Erscheinung des Mannes angezogen sind. Schließlich sind unsere Großeltern den Nationalsozialisten auch deshalb massenweise hinterher gelaufen, weil diese es verstanden haben, sich attraktiv zu inszenieren. Wir können vor den Schamgefühlen fliehen, indem wir die Boss-Mode ablehnen. Ich halte mehr davon, die Scham zu überwinden. Wir haben die Chance, uns an Attraktivem zu erfreuen und uns gleichzeitig darüber im Klaren zu sein, dass Schönheit missbraucht und wir verführt werden können. Das Foto des Boss-Models, das in Anlehnung an die Nazi-Ästhetik ausstaffiert und frisiert ist, ruft uns genau das in Erinnerung. HILKE SCHWARTAU, Hamburg

Gut gebrüllt für Europa, aber …

■ betr.: „Der Atomausstieg war auch nicht gottgegeben“,taz vom 2. 10. 12

Gut gebrüllt für Europa, Dani. Aber auf Montesquieu sollte sich ein Demokrat nicht berufen: Der war als Adliger im 18. Jahrhundert von der damaligen konstitutionellen Monarchie Englands begeistert, weil dort der Adel im Oberhaus, also in der ersten Kammer, für die Gesetzgebung zuständig war. Das britische Unterhaus wurde erst im 20. Jahrhundert zur ersten Kammer. Ein parlamentarisches System, in dem die Chefin der Exekutive nicht eine Königin, sondern ein Mitglied der Legislative ist, wäre Montesquieu ein Graus gewesen. Die Gewaltenteilung von heute funktioniert vollkommen anders, als Montesquieu sie beschrieben hat. Und das ist gut so.

Auch das Argument, der Europäische Rat dürfe exekutive und legislative Funktionen nicht vereinen, ist verkürzt: Solange die EU kein Bundesstaat und die Kommission keine europäische Bundesregierung ist, kann das gar nicht anders sein. – In Deutschland besteht die zweite Kammer der Legislative, der Bundesrat, übrigens aus den Chefs der Länderexekutiven und ist am Verordnungsrecht der Bundesregierung, also einer exekutiven Funktion, beteiligt. Das ist keine Besonderheit der EU, wird aber nur an der EU kritisiert. Das ist kein Zeichen intellektueller Redlichkeit. THOMAS LANGE, München

Hofierte Atomindustrie

■ betr.: „Relaxter Stresstest“, taz vom 5. 10. 12

Der laxe AKW-Stresstest zeigt einmal mehr, wie sehr die Atomindustrie hofiert wird. Würde eine dezentrale erneuerbare Energieversorgung genauso hofiert werden, wären wir heute schon fast bei 100 Prozent erneuerbaren Energien, und dies bei einem Strompreis, der eher niedriger als höher von heute liegen würde.

ARTUR BORST, Tübingen

Privilegierte Beamte und Politiker

■ betr.: „Privat sparen ist nicht angesagt“ u. a., taz vom 5. 10. 12

Wieso berichtet keine Zeitung in Deutschland im Zusammenhang mit der Altersversorgung über die Privilegien der Beamten und Politiker. Gerade diese Klasse müsste als Vorbild selbst vorsorgen. Wenn ich daran denke, dass derzeit Pensionsansprüche von über zwei Billionen für diese „neue Adelsklasse“ bezahlt werden müssen, wird mir übel. Demokratie wäre, gäbe es eine Renten- und eine Krankenkasse für alle. ROBERT HUBER, Murg