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Archiv-Artikel

LESERINNENBRIEFE

Die flotte Presse macht sich’s leicht

■ betr.: „Für Pädophilie und dagegen“, taz vom 13. 8. 13

Die europäische Kultur beruft sich auf die griechische Kultur als Basis aller kulturellen Phänomene, bis heute. Die Freiheit des Denkens, Demokratie, der Polisbürger – all diese humanen Grundsätze wurden diskutiert und praktiziert in einer Umwelt, in der ohne einen Hauch von Infragestellung Frauen aus dem Gemeinwesen ausgeschlossen waren, ebenso Sklaven, meist Kriegsgefangene aus anderen Ländern, wie die Migranten nichtdeutscher Staatsbürgerschaft bis heute. Und die Kultur der Polis wurde praktiziert in einem Umfeld selbstverständlicher Pädophilie.

Im Jahr 1968 galt noch der Kuppeleiparagraf, der Schwulenparagraf, homosexuelle Frauen wurden ignoriert, der Züchtigungsparagraf für Kinder, der Mann war nicht nur „Vorstand“ im Haushalt, sondern auch über die Ehefrau, der ihr Berufstätigkeit erlaubte oder nicht, und der selbstverständlich sexuelle Gewalt anwenden konnte in der Ehe, die als besonders schützenswert gilt, bis heute. Die Paragrafen gelten heute nicht mehr durch den „Modernisierungsschub“, den die 68er mit ihren Protesten hervorriefen. Die Reflexion der Beziehung zwischen Frauen und Männern bewirkte die Frauenbewegung, die zwischen Kindern und Erwachsenen die antiautoritäre Erziehung. Antiautoritäre Erziehung meinte, Machtstrukturen überhaupt wahrzunehmen, sie auf ihre Ursachen zu hinterfragen und Freiräume zu schaffen, in denen die Kinder sich entfalten und, soweit sie dazu in der Lage waren, sich gegen Repression wehren konnten. Kinder wurden nicht als „junge Wilde“ im Sinne Rousseaus gesehen. Es waren immer geschädigte Kinder ihrer deformierten Eltern. Es ging der antiautoritären Erziehung immer auch darum, Kinder über die bestehenden Verhältnisse der Erwachsenen aufzuklären. Warum gehen Eltern zur Arbeit? Was machen sie da den ganzen Tag? Wieso kosten Sachen Geld? Warum hat der eine viel und die andere wenig? Was machen Papa und Mama im Bett? Warum haben Mädchen keinen Pimmel? Was haben sie dann?

Dass Geschlechtsteile nur mit lateinischen, kindlichen oder obszönen Ausdrücken benannt werden können bis heute, zeigt das gebrochene Verhältnis, das wir in den westlichen Gesellschaften zur Sexualität haben. Auch das Wissen war gering. Konrad Lorenz mit seinen Gänschen, seinem Nobelpreis und seiner NS-Vergangenheit konnte frei von allen Zweifeln verkünden, menschliches Verhalten sei triebgebunden, Aggression (Kriege) und Sexualität seien naturgegeben. Lerntheoretische Ansätze waren lächerlich und natürlich auch der Gedanke, dass Sexualität im Kopf entsteht.

Dennoch glauben wir auch heute, über sexuelle Fragen eindeutig und mit großer Sicherheit urteilen zu können. Ist Homosexualität eine Krankheit? Ist Pädophilie eine Krankheit? Ist hetero normal? Ist Natur normal? Im Verhältnis Kinder und Jugendliche zu Erwachsenen: Wo sind die Grenzen der Zärtlichkeit? Ist Liebe grenzenlos? Gibt es herrschaftsfreie Beziehungen? Die Beantwortung solcher Fragen ist schwierig. Eine sachliche Diskussion erfordert immer einen genauen Blick auf die Ränder der Phänomene, auf die fließenden Übergänge. Die flotte Presse macht sich’s da leicht und die momentan betroffenen Parteien reagieren mit Angst. Kategorien sind festgelegt, deren Akzeptanz ist gefordert. Wie früher. Wie in der Antike, im Mittelalter, wie immer. Auch heute. URSULA LEPPERT, München

Ein Ort zwischenlinker Kooperation

■ betr.: „Heillos fragmentiert“, taz vom 19. 8. 13

Es entbehrt nicht einer gewissen Ironie, wenn ein Autor durch seine Kritik genau jenen Zustand erst hervorbringt, den er zu kritisieren meint. So beklagt Arno Frank über die Eröffnungsdiskussion der Summer Factory des Instituts Solidarische Moderne (ISM) die „heillose“ Zersplitterung der Mosaiklinken. Dabei verwechselt er – infolge einer harmonischen Konzeption des Politischen – die Überwindung von Fragmentierung mit der Überwindung inhaltlicher und politischer Differenzen überhaupt.

Drei Tage lang haben etwa 150 Menschen aus drei Parteien, NGOs, Gewerkschaften, der kritischen Wissenschaft und den sozialen Bewegungen in Arbeitsgemeinschaften, Fishbowls und Open-Space-Veranstaltungen gemeinsam diskutiert, Konflikte ausgetragen, voneinander gelernt und Kontakte geknüpft – politische AkteurInnen, die sich vor wenigen Jahren noch geweigert hätten, überhaupt miteinander zu reden. Solch ein Ort zwischenlinker Kooperation schafft Unterschiede nicht aus der Welt, er lebt von ihnen.

Kooperation funktioniert allerdings nicht, ohne dass die Karten auf den Tisch gelegt werden. Die rot-grüne Regierungszeit hat nicht nur die „Agenda 2010“, sondern auch zwei deutsche Kriegsbeteiligungen zu verantworten. Das muss schonungslos aufgearbeitet werden, um einen Lernprozess über die strategischen Bedingungen eines Politikwechsels zu ermöglichen. Dass dies nicht ohne Konflikte abläuft, ist trivial – es kommt darauf an, einen produktiven Umgang mit diesen Differenzen zu finden. SONJA BUCKEL, Kuratoriumssprecherin ISM, MARIO NEUMANN, wissenschaftlicher Mitarbeiter ISM

Hände nicht schmutzig machen

■ betr.: „Es muss etwas passieren!“, taz vom 23. 8. 13

Wie immer schaut die EU hilflos dem Massensterben in Syrien zu. Jetzt sogar noch dem Einsatz von Giftgas, wodurch tausende unschuldige Menschen qualvoll sterben. Die UN und auch unser nur an Diplomatie glaubender Außenminister entlarven sich dabei wie so oft wieder leider als Lachnummer. Obwohl die USA wegen der NSA-Ausspähaffäre stark angegriffen wurden, erwarten die EU-Politiker jetzt wieder, dass Obama seine Soldaten für uns in den Syrienkrieg schickt, nur selbst die Hände nicht schmutzig machen.

RÜDIGER KAMMERHOFF, Königslutter