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Archiv-Artikel

LESERINNENBRIEFE

Seltsame „Selbstbestimmung“

■ betr.: „Fehler Polarisierung“, taz vom 6. 5. 14

Lieber Herr Walther, Sie schreiben, dass Putins Aktion auf der Krim allenfalls eine rechtlich schwierig zu beurteilende Einmischung gewesen sei, als er zu einem Referendum aufrief, mit dem die Russen auf der Krim ihr Recht auf Selbstbestimmung wahrnehmen sollten. Es ist von Ihnen vermutlich nicht beabsichtigt, sondern nur unsauber formuliert, aber Sie haben in diesem Satz schon das eigentliche Problem genannt: Nicht das Parlament der Krim, sondern Putin hatte beschlossen, dass die Russen auf der Krim ihr Recht auf Selbstbestimmung wahrnehmen „sollten“.

Ebenso wie Reinhard Merkel, auf dessen Artikel in der FAZ Sie sich stützen, spielen Sie gewissermaßen am grünen Tisch die rechtlichen Bedingungen einer Sezession durch, ohne die realen Bedingungen und Vorgänge „on the ground“ zu berücksichtigen. Sie erinnern sich schon, dass die Krim-Krise mit der Besetzung des Parlament in Simferopol durch unbekannte Bewaffnete begann, die sich als Selbstverteidigungskräfte ausgaben und tatsächlich russische Spezialkräfte waren? Alle Entscheidungen des Parlament wurden dann hinter verschlossenen Türen getroffen. Ukrainische Sender auf der Krim wurden abgeschaltet, Personen, die für den Verbleib bei der Ukraine demonstrierten, auf offener Straße verprügelt, einige verfolgt, gefoltert, einer sogar ermordet, in den Wahllokalen gab es keine Umschläge für die Stimmzettel etc. Inzwischen darf der gewählte Chef der Vertretung der Krimtataren, ein Weggefährte Andrej Sacharows und Träger des Nansen-Preises der UN, die Krim auf Jahre hinaus nicht mehr betreten.

Hinzu kam das propagandistische Trommelfeuer der russischen Staatsmedien, die Ende Februar von Flüchtlingsströmen, die aus der Ostukraine nach Russland kämen, und angeblichen Plänen für ethnische Säuberungen und Konzentrationslager für Russen berichteten. Wie Sie unter diesen Bedingungen von „Selbstbestimmung“ schreiben können, ist mir rätselhaft.

Dass Sie wie R. Merkel zudem Putins zynische Argumentation übernehmen, es habe doch gar keine militärische Intervention auf der Krim gegeben, da ja kein Schuss abgefeuert worden sei, ist befremdlich. Es gehört ja nicht viel Fantasie dazu, sich vorzustellen, was passiert wäre, wenn sich die ukrainischen Streitkräfte gegen die Tausenden russischen Spezialkräfte gewehrt hätten. BERT HOPPE, Berlin

Distinguiertes Morden

■ betr.: „Militante Erinnerungskultur“, taz vom 8. 5. 14

Herr Leggewie schreibt: „Das demonstriert, was Gesellschaften zustoßen kann, die zur eigenen Vergangenheit keinerlei selbstkritische Distanz einüben konnten. Das gilt vor allem für die russische Gesellschaft.“ Hier verdichtet sich die Stoßrichtung des Kulturwissenschaftlers – vor allem die russische Gesellschaft also habe zu ihrer eigenen Vergangenheit keine selbstkritische Distanz einüben können. Stimmt natürlich – der Genozid der nordamerikanischen Staatsgründung ist sicher flächendeckend selbstkritisch reflektiert, Hiroshima im Sinne eines geostrategischen Herrschaftsanspruches eingeordnet und bereut, die Change-Regime-Strategien und Praktiken des CIA im Iran, Chile, Kuba, Venezuela und Ecuador, um nur einige wenige Beispiele zu nennen, voll zugestanden und gesühnt, der Korea- und Vietnamkrieg verarbeitet, die Kriegstreiberei und Waffenlieferungen an den Irak vor dem Irak-Iran-Krieg selbstkritisch reflektiert und erster wie zweiter Irakkrieg (800.000 Tote laut UNO), Kosovo und Afghanistan voll reflektiert. Aber die Russen, deren Zar ja neulich vor Berlin stand, denen fehlt es vor allem an selbstkritischer Distanz: Damit wir uns nicht missverstehen: Natürlich fehlt es vielen Russen an selbstkritischer historischer Distanz – nur sieht’s mit den USA und ihren europäischen Kollaborateuren keineswegs immer und grundsätzlich besser aus.

„Russland als ein Gas- und Ölscheichtum anderen Typs bringt keine entwickelte Zivilgesellschaft zustande.“

Die russische Zivilgesellschaft erscheint klein und überschaubar, mal zugestanden, obwohl ich kein expliziter Russlandkenner bin. Die ausgebaute deutsche, europäische und US-amerikanische Zivilgesellschaft hat ihr gegenüber den Vorteil, dass sie distinguiert mordet und gepflegter debattiert, zudem einen größeren Anteil an Ausbeutung und Totschlag wie fahrlässiger Tötung outgesourct und damit eher wenig oder gar unsichtbar gemacht hat. Die Friedhöfe Europas liegen vor allem auf dem Grunde des Mittelmeeres, in Afrika, Asien und Südamerika. LUKAS VAN DER MEER, München

Freispruch aus Personalmangel

■ betr.: „Nein heißt nein“, taz vom 6. 5. 14

Dass eine Verschärfung des Strafrechts bei Vergewaltigung (Paragraf 177) überfällig ist, geht nicht nur aus dem niedrigen Prozentsatz der Verurteilungen (8 Prozent), sondern mehr noch aus Begründungen für den Freispruch hervor, so aus einem Prozess vor drei Jahren in Bremen: Sechs junge Männer hatten eine 17-Jährige vergewaltigt, vaginal, oral und anal, wobei sie außer ihren Geschlechtsteilen noch eine Flasche einsetzten, das Ganze stundenlang und in einem unbewohnten Haus.

Obwohl der Richter das Opfer, das bei der Vernehmung zusammenbrach, für absolut glaubwürdig hielt, wurden die Täter freigesprochen! Wegen Personalmangel im Krankenhaus und bei Gericht war eine umfassende Beweisaufnahme nicht möglich gewesen. Entscheidend für den Freispruch aber war das Argument der Verteidigung, nach dem die 6 Täter bei der 17-Jährigen keine Gegenwehr hätten feststellen können! Man kann nur hoffen, dass die Frauenrechtsorganisation Terre des Femmes mit ihrer Forderung, den Paragrafen 177 zu verschärfen, Erfolg hat. ROMINA SCHMITTER, Bremen