LESERINNENBRIEFE :
Kritisch über sich nachdenken
■ betr: „Die Gute-Laune-Partei“, taz vom 2. 6. 14
Die Kritik am grünen Spitzenpersonal ist einerseits völlig berechtigt – insbesondere Cem Özdemir als auch Katrin Göring-Eckardt sind bis jetzt vor allem durch Opportunismus und Karriereorientierung aufgefallen, weniger durch inhaltliche Ausrufezeichen. Dennoch würden wohl auch diese beiden sich einer starken Parteiströmung zumindest äußerlich anpassen. Man darf also nicht nur das Spitzenpersonal in Haftung nehmen.
Denkt man an die Anfänge der Grünen zurück, war da eine Partei, die über sich selbst kritisch nachdachte und sich Mechanismen überlegte, wie man die Korruption durch Macht einschränken und die parteiinterne Debatte lebendig halten könnte. Es ging auch um die Bedingungen der Möglichkeit vernünftiger, gemeinwohlorientierter Debatten.
Davon übrig geblieben ist auf den Parteitagen ein Pseudokonsensprinzip, das echte Diskurse gerade verhindert und in windelweiche Kompromisse auflöst. Die Macht der Spitze hat wie in allen Parteien zugenommen, sodass sich Cem Özdemir erdreisten kann, die Debatte um die Vermögenssteuer im Namen der Partei für beendet zu erklären.
Was ist also zu tun? Entgegen Harald Welzers Untergangsorakel gibt es eine reelle Chance, die Verhältnisse zu ändern – nämlich massenhafte Eintritte in die Partei mit dem Ziel, an der Basis eine parteiinterne Basisdemokratie wieder neu zu beleben. Ohne Karriereambition, dafür aber mit Achtsamkeit für einen schwierigen Prozess: das Organisieren von Diskussionen, deren antihierarchische Bedingungen allgemeinwohlorientierte Beschlüsse ermöglichen.
Und eine grünfreundliche Presse, die Geschlossenheit auf Parteitagen, die ja Diskussionsforen sein müssen, nicht für ein Kriterium einer „guten“ Partei hält. MICHAH WEISSINGER, Essen
Schnelle Herrscher leben kurz
■ betr.: „Der ängstliche Rebell“, taz vom 28. 5. 14
Ein Rebell will er also sein, der Herr Ritz von der Jungen Alternative der AfD. Na ja, wenn es zum Rebellentum gehört, in Physiognomie und Habitus bereits mit 32 dem großen Oggersheimer zu ähneln, mag ihm das sogar gelungen sein.
Obacht ist dennoch geboten, denn diese Ähnlichkeit könnte womöglich schon als Vorgeschmack auf Kommendes verweisen: Die meisten Rebellen werden alsbald ihres Kampfes müde und machen ihren Frieden mit der übermächtigen Krake, die ihnen „Denkverbote“ auferlegen will. Und so dürfte auch das AfD-Grüppchen im EU-Parlament rasch realisieren, dass ein auf den Ressentiments der vermeintlichen Klientel basierendes Wahlprogramm keine Grundlage für langfristigen politischen Einfluss darstellen kann, zumal die reaktionäre Anhängerschaft der Partei bald feststellen wird, was sich hinter den markigen Sprüchen ihrer neuen Lieblinge verbirgt: individuelles Streben nach Pöstchen.
Es besteht also die Hoffnung, dass sich Schillers Satz als zutreffend erweist: „Die schnellen Herrscher sind’s, die kurz regieren“ – oder, dem Sprachgebrauch von Rebellen angepasst: Live fast, die young!
FRANK PÖRSCHKE, Hattingen
Kein Schulz-Effekt
■ betr.: „Merkel schmiedet Pläne für Juncker“, taz vom 3. 6. 14
Deutsche Medien und Politiker haben sich aufgeregt, als die deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel eine Festlegung auf Jean-Claude Juncker als EU-Kommissionspräsident vermied.
Nun, Fakt ist, Juncker war in Deutschland vor den EU-Wahlen praktisch nicht präsent: Überall lächelte Angela Merkel von Riesenwänden. Zudem: Die Situation nach den Wahlen ist alles andere als klar. So lässt sich der britische Premierminister Cameron nicht von „Spitzenkandidaten“ sein Recht auf eine eigene Entscheidung nehmen. Er steht in der EU mit dieser Haltung nicht allein. Denn im Lissabon-Vertrag steht nichts von Spitzenkandidaten. Dort heißt es, dass die Staats- und Regierungschefs dem EU-Parlament den Kommissionschef vorschlagen und dabei das Wahlergebnis „berücksichtigen“ – was immer das heißen mag. Das EU-Parlament, genauer: dessen Präsident, hat diese Spitzenkandidaten-PR-Aktion lanciert. Es war die Rede von einer „Demokratisierung der Wahl“, die das Absinken der Wahlbeteiligung verhindern solle.
Flüchtig gesehen scheint dieses Rezept Wirkung gezeigt zu haben: Über alle EU-Staaten gepeilt ist die Wahlbeteiligung im Vergleich mit 2009 konstant geblieben. Warum? Das in einigen gewichtigen Ländern äußerst erfolgreiche Engagement von EU-Kritikern – Ukip, Front National und die Syriza in Griechenland (Zunahme der Stimmbeteiligung um 5,6 Prozent) – hat die Wähler mobilisiert, und nicht die Spitzenkandidaten. Zwar – in Deutschland liegt die Wahlbeteiligung um 4,6 Punkte höher als 2009. Denn es geht Deutschland inmitten der Euro-Krise ausgesprochen gut; zudem wirkten hier Schulz- und AfD-Effekt. Die SPD hat ihren Wähleranteil um 6,5 Punkte vergrößert, während der der CDU minimal abgenommen hat.
Jedoch, die Wahlen in das EU-Parlament sind in allen 28 Staaten nach nationalen Gesichtspunkten entschieden worden. So wurden sozialdemokratische Parteien in Schweden, Italien, Portugal, in Rumänien, Litauen, in der Slowakei, in den Niederlanden und auf Malta aus nationalen Gründen stärkste Partei. In Schweden hat die Wahlbeteiligung um 3,3 Prozent zugenommen, in Italien um 5 Prozent, in der Slowakei um 6,6 Prozent abgenommen – also kein Schulz-Effekt. Die Staats- und Regierungschefs haben also volle Handlungsfreiheit bezüglich der Person des EU-Kommissionspräsidenten. JÜRG WALTER MEYER, Leimen bei Heidelberg