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Archiv-Artikel

LESERINNENBRIEFE

Irrsinnig gefrustet

■ betr.: „Die Bildungsbaustelle“, taz vom 24./25. 9. 11

Die Umstände im deutschen Gesundheitswesen sprechen nicht gerade für sich, und neu ausgebildete Mediziner zieht es zu Haufe ins Ausland, in die Forschung oder in die Wirtschaft. Jedoch gibt es noch eine andere Seite, zu der auch ich zähle, deren Wunschberuf die Medizin ist und die regelmäßig an den Zugangsvoraussetzungen scheitert, weil diese sich so gut wie nur auf die Durchschnittsnote des Abiturs beziehen.

Nun steht man da, nach dreizehn Jahren Schule, das Abitur in der Tasche, mit einer Durchschnittsnote von 2,4, höchstmotiviert für den Medizinerberuf und mit absolut keiner Chance in absehbarer Zeit Medizin studieren zu können, weil man laut Note zu schlecht ist. Natürlich bewerben sich Massen von Abiturienten und man braucht ein Auswahlverfahren. Aber wieso eine Note im Bereich sehr gut? Eine Note, die mit Bestimmtheit keine Auskunft darüber gibt, ob ich in der Lage bin, diesen Beruf auszuüben. Man steht da also, irrsinnig gefrustet und muss sich überlegen, ob man viel Zeit und Geld investiert und auf einen Beruf wartet, den man mit Hingabe ausüben möchte. Ein anderes Fach studieren kann man nicht, denn sonst wird einem keine Wartezeit mehr angerechnet, und das ist der realistischste Weg, den gewünschten Studienplatz zu bekommen, nach aktuell sechs Jahren. Was macht man nun?

Es gibt noch ein weiteres Verfahren. Das Auswahlverfahren. Praktika oder eben eine medizinische Berufsausbildung werden einem in diesem, wohlgemerkt auf die Durchschnittsnote, angerechnet. Ich habe ein dreimonatiges Pflegepraktikum absolviert. Dann kam die Ausbildung zum Rettungssanitäter. Kostenpunkt ca. 1.500 Euro. Ich habe nicht gleich mit der Vollzeit-Rettungsassistenten-Ausbildung begonnen, weil die Hoffnung auf einen Studienplatz bleibt, man denkt, vielleicht habe ich doch Glück im Losverfahren. Nur leider ist das mit dem Losverfahren wie in der Lotterie. Also habe ich die Ausbildung zur Rettungsassistentin gemacht. Sie kostet ca. 2.500 Euro, ohne Lebenshaltungskosten. Die Theorie dauerte wegen Verkürzung acht Monate. Danach geht man in das berufspraktische Jahr, was bedeutet ein Jahr im Rettungsdienst zu arbeiten. Wenn man Glück hat, bekommt man Gehalt. Zum Teil lange und unregelmäßige Arbeitszeiten, aber auch ein hoher physischer und psychischer Aufwand sind damit verbunden.

Man bekommt Einblicke in das Gesundheitswesen, und die Erfahrung im Rettungsdienst bereichert einen ungemein. Man lernt das medizinisch-theoretische Wissen in die Praxis umzusetzen. Über das Medizinische hinaus, lernt man dort seine eigene Persönlichkeit zu stärken und man sieht deutlich, dass Fähigkeiten weit über das Medizinische oder gar eine Note hinaus gefragt sind.

Jetzt steht man wieder da. Drei Jahre sind inzwischen vergangen, der Frust und die Deprimiertheit steigen mit jeder Absage, zu jedem neuen Semester. Was macht man nun? Arbeitet man weiterhin im erlernten Beruf und überbrückt so die Wartezeit? Oder kehrt man dem großen Traum vom Arztberuf den Rücken? Immerhin wäre ich dann etwa 25 Jahre alt, bis ich anfangen würde zu studieren. Kindergeld gibt es dann auch keins mehr. Es gäbe da noch die kostenaufwendige Möglichkeit Ausland. Nur wer finanziert das?

Bis ich dann fertig mit dem Studium wäre, wäre ich etwa 31 Jahre alt, ohne Facharztausbildung. Noch mal mindestens 4 bis 5 Jahre daraufrechnen. Ich habe mich zum diesjährigen Wintersemester wieder beworben. MARINA STRÄHLE, Karlsruhe

Seele ruiniert

■ betr.: „Ohne Energie“, taz vom 23. 9. 11

Der mutige, weil geoutete, Extrainer Rangnick von Schalke 04 ist derzeit ein prominentes Beispiel dafür, wie die Seele ruiniert wird, wenn der Mensch nur noch funktioniert und funktionieren soll. Finanzielle Investitionen (in menschliches Arbeitsvermögen) müssen sich rechnen, erbarmungsloser Konkurrenzdruck, unerbittlicher Ehrgeiz – das sind die Attribute, mit denen sich das Klima in den meisten gesellschaftlichen Bereichen und Betrieben beschreiben lässt. Und das lebende Arbeitsinstrument, der Mensch, hat sich dem Tempo anzupassen. Wenn er schließlich verschleißt, wird er wie in der Kfz-Werkstatt auf den Prüfstand gestellt: Welches Teil soll ausgewechselt, erneuert, repariert werden, oder muss er ganz abgeschafft und neu gekauft werden? „Artgerechte Haltung“ – dafür setzen sich Tierschützer ein. Wer setzt sich für menschliche Bedingungen in einer grenzenlos an Gewinn und Wachstum orientierten Gesellschaft ein? Psychische Erkrankungen haben erschreckende Ausmaße angenommen, Burn-out, Depressionen, Angsterkrankungen. Nur wenige „Leistungsträger“ trauen sich zu sagen: Ich kann nicht mehr, darum bin ich krank. Am 10. 10. ist der Internationale Tag der seelischen Gesundheit. Eine Gelegenheit innezuhalten. ANNE GREFER, Solingen