LESERINNENBRIEF :
Architektur ohne soziales Interesse
■ betr: „Die Gegner wollen erhalten, nicht verändern“, Interview mit Christoph Ingenhoven, Architekt von „Stuttgart 21“, in der taz vom 13. 8. 10
Lieber Herr Ingenhoven, der Vorwurf, keine Veränderung, sondern Erhalt zu wollen, ist so alt wie die Architektur selbst. Und Ihre wiederholte Bemerkung, es würden nur die Alten protestieren: Sie sind ja selbst nicht mehr der Jüngste, ebenso wie der Entwurf und das städtebauliche und verkehrstechnische Gesamtkonzept „Stuttgart 21“.
Der Bahnhof ist nur ein Teil der Planung von „Stuttgart 21“ und ein Symbol für den Widerstand gegen ein Projekt, das die Kostensteigerungen eines Joghurts weit übersteigt! Und es geht hier auch um die Konsequenzen, die sich hieraus und aus dem Gesamtprojekt ergeben: Die Stadt Stuttgart streicht und kürzt bei ihren anderen Aufgaben wie Kultur, Bildung und Soziales bereits schon jetzt massiv. Das Land Baden-Württemberg (und die DB AG) vernachlässigt massiv die grundgesetzliche Verpflichtung zur Herstellung gleichwertiger Lebensverhältnisse in Bezug auf gleiche Mobilitätschancen – sprich entsprechende regionale Bahnanschlüsse und Bahnverbindungen. Die Stadt Stuttgart und das Land Baden-Württemberg haben sich verpflichtet, nicht erzielte Grundstückserlöse aus ihren Etats (sprich Steuergeldern) zu finanzieren usw. Außerdem wurden die BürgerInnen dieser Stadt nur kommentatorisch und nicht rechtlich verbindlich zu diesen Planungen befragt – ganz abgesehen von den vielen weiteren Details wie eine massive Einflussnahme auf die Presse.
Im Übrigen handelt es sich nicht um eine Minderheit, sondern um eine Mehrheit, das hat allein schon der Antrag auf ein BürgerInnenbegehren gezeigt, den über 60.000 statt der geforderten 25.000 BürgerInnen unterzeichnet hatten.
Dass Sie, Herr Ingenhoven, ein Interesse haben, zu bauen, ist nachvollziehbar – dass ArchitektInnen sich in den seltensten Fällen um politische und soziale Kontexte und Konsequenzen kümmern, ist nicht nur eine Berufskrankheit, sondern Ausdruck einer nach wie vor eng geführten und eingeschränkten Perspektive dieser Disziplin. Und genau an dieser Stelle liegt der Hund sprich die „Antimodernität“ begraben. YVONNE P. DODERER, freie Architektin, Stuttgart