LEBENSWELT UND TECHNIK: Menschheitsfalle Energienetz
Energie ist Fortschritt – diese Gleichsetzung gilt uns heute als naiv. Vom Krimkrieg bis zum Golfkonflikt reicht die Geschichte des Kampfs um Rohstoffe. Waldsterben, Tschernobyl, Klimakatastrophe sind aktuelle Stichworte zum Energieverbrauch. Kurzfristigem Umschalten stehen langfristige Interessen transnationaler Energiekonzerne entgegen – und unsere Zivilisationsform. ■ VON LUTZ MEZ
Des internationale Energiesystem ist durch langfristige Kontinuitäten gekennzeichnet. Der globale Bedarf wird durch die Produktion von Energieträgern gedeckt, die ungleich auf verschiedene Regionen der Welt verteilt sind. Als fossile Primärenergiequellen bezeichnet man Kohle, Erdöl und Erdgas. Dauerhafte Energieträger sind Wasser, Wind und Sonne sowie Erdwärme. Eine weitere Primärenergie ist die Atomkraft aus Uran und Plutonium, beides zugleich Baustoffe der Atombombe.
Seit Beginn der Industrialisierung war Kohle weltweit der wichtigste Energieträger und wurde erst Ende der 50er Jahre vom Erdöl auf Platz 2 verdrängt. In den letzten zehn Jahren ist der Ölanteil – auch absolut – rückläufig, während die Kohle wieder zunimmt. Der Erdgasanteil wächst seit Anfang der 70er Jahre. Wasser und Atomkraft sind im Weltmaßstab die unbedeutendsten Primärenergiequellen. (Siehe Tabelle 1)
Zwischen 1970 und heute stieg der Primärenergieverbrauch der Welt von fünf Milliarden auf über acht Milliarden Tonnen Rohöleinheiten an. Nach den Energiekrisen von 1973 und 1979 stagnierte der Weltenergieverbrauch bzw. war sogar leicht rückläufig. Seit 1984, wo nach 1979 mit rund sieben Milliarden Tonnen Rohöleinheiten ein neuer Spitzenverbrauch erreicht wurde, ist er jährlich gewachsen. Für die nächsten 15 Jahre wird erwartet, daß der globale Energieverbrauch um rund 50 Prozent zunimmt.
Derzeit wird ein Viertel der Energie in den USA verbraucht, es folgen die UdSSR mit 17,3 Prozent, Westeuropa mit 16,4 Prozent, die Volksrepublik China mit 8,3 Prozent und Japan mit 5,9 Prozent. Die Dritte Welt verbraucht weitere 17 Prozent. Dabei sind die Tendenzen sehr verschieden. In Nordamerika war der Energieverbrauch in den letzten zehn Jahren rückläufig und erreichte erst 1988 wieder das Niveau von 1979. Entsprechendes gilt für Westeuropa. In der UdSSR dagegen stieg der Verbrauch ständig an, stagnierte jedoch 1989. In Japan wurde das Niveau von 1979 bereits 1984 überschritten; seitdem nimmt der Konsum wieder zu. Starke Wachstumsraten weist China auf, wobei dieses Muster auch für Afrika, Asien, Australien und Neuseeland gilt. Nach Prognosen der Weltbank wird der Energiebedarf der Entwicklungsländer in den nächsten sechs Jahren um mehr als 50 Prozent ansteigen. Der Kampf um die Energieressourcen führt nicht nur zu regionalen Konflikten, sondern auch zu Machtverschiebungen im internationalen System. Die Energiekrise von 1973 kennzeichnet einen Wendepunkt in der Beziehung zwischen den westlichen Industriestaaten und der Opec und war Ausdruck für einen grundlegenden Wandel in der Weltwirtschaft. Viele Jahre hatte das Ölkartell vergeblich versucht, über Preiserhöhungen ein größeres Stück vom Energiekuchen abzubekommen. Aber von den Ölpreiskrisen profitierten in erster Linie die multinationalen Ölkonzerne, deren Umsätze 1988 über 300 Milliarden Dollar ausmachten. Heute bestreiten aber die berühmten sieben Schwestern das Ölgeschäft nicht mehr allein. Die Rangliste der Weltölgesellschaften führt unter den ersten zehn zwar noch sechs Ölmultis, aber auch vier Opec-Mitglieder. (Siehe Tabelle 2)
Der Rangbewertung liegen folgende Kriterien zugrunde: Öl- und Gasreserven, Öl- und Gasproduktion, Raffineriekapazität und Mineralölproduktverkäufe. Nicht erfaßt in dieser Übersicht sind die RGW-Länder. Die Sowjetunion hat einen sicheren Platz unter den ersten zehn. Sie ist der einzige Industriestaat der Welt, der auf dem Energiesektor völlig autark ist und dies in absehbarer Zukunft auch bleiben wird. Derzeit stammt ein Viertel der Weltenergieproduktion aus der Sowjetunion. Gemessen an den Gesamtvorräten bei fossilen Energiequellen und am Wasserkraftpotential wird die UdSSR von keinem anderen Land der Welt übertroffen. Sie ist auch der größte Energieproduzent der Welt. Bei der Erdöl- und Erdgasförderung liegt sie auf dem ersten Rang – 1989 hatte sie bei Erdgas 37,5 Prozent und bei Erdöl 19,7 Prozent Anteil an der Weltförderung. Bei der Kohleförderung nimmt sie hinter den USA und der Volksrepublik China den dritten Rang ein: 1989 wurden 498 Millionen Tonnen Steinkohle und etwa 165 Millionen Tonnen Braunkohle gefördert. Ferner ist die UdSSR einer der größten Energieexporteure der Welt. Seit vielen Jahren wird etwa ein Sechstel der gesamten Energieproduktion ins Ausland exportiert. Der Handel mit Energieträgern umfaßte wertmäßig etwa die Hälfte der sowjetischen Exporterlöse. Mit dem Übergang zu Weltmarktpreisen auf Devisenbasis im RGW-Handel wird der Stellenwert der Energiewirtschaft noch zunehmen.
Die Golfkrise zeigt erneut, wie schnell Energiekonflikte die Welt an den Rand eines Krieges bringen. Der jahrelange Krieg zwischen den Ölgiganten Iran und Irak war nur das Vorspiel im Kampf um die Ölressourcen am Golf. Der ehemalige US-Verteidigungsminister Arthur M. Schlesinger hatte 1989 auf der Weltenergiekonferenz in Montreal vor dieser Entwicklung gewarnt. Die Abhängigkeit der Weltwirtschaft vom Öl der Golfregion mache diese zum Pulverfaß. Falls es je zu einem dritten Weltkrieg komme, dann wegen dieser Ölreserven.
Energie wird heute von der Förderstätte zu den Verbraucherländern per Schiff oder Bahn transportiert, oder es werden Öl- bzw. Gaspipelines sowie Strom-, Gas- und Fernwärmeleitungen benutzt. Wer nicht nur über die Energieträger, sondern auch über die Transportindustrie und die Leitungsnetze verfügt, ist allmächtig, denn sie sind die Nerven des Industriesystems. Die Ölmultis besitzen die Öl- und Gaspipelines, den Großteil der Öltanker und der Verteilungs-Infrastruktur an die Endverbraucher. In allen Industrieländern haben die leitungsgebundenen Energien zu sogenannten natürlichen Monopolen geführt. Einen Markt mit Wettbewerb gibt es nicht. Die Stromkonzerne besitzen die Stromnetze, teilweise auf allen Spannungsebenen. Dabei sind technische Grenzen vorhanden: Pipelines können die größte Menge Energie am schnellsten transportieren. Die Gasinfrastruktur hat den Vorteil, daß sie beim Übergang auf den Energieträger Wasserstoff weitergenutzt werden kann. Dagegen ist die Transportkapazität von Stromleitungen trotz bis zu 1.500 Kilovolt Höchstspannung und dem Einsatz von supraleitendem Material um Faktoren kleiner. Aber für die Zukunftsenergie Wasserstoff ist ermittelt worden, daß der Transport per Schiff bei weiten Entfernungen vorteilhafter ist als die Weiterleitung von Strom. Noch sind die Kontinente untereinander nur teilweise vernetzt, doch der Energieverbund schreitet unaufhaltsam voran. In Westeuropa werden heute sieben Prozent der Stromerzeugung grenzüberschreitend ausgetauscht. Unter Einschluß der UdSSR und der übrigen Staaten Osteuropas will die Europäische Gemeinschaft alle Energienetze zusammenkoppeln. Beim Strom wird sogar die Vernetzung mit Nordamerika vorgeschlagen.
Elektrizität ist die mit Abstand teuerste und profitabelste Energieform. Der bundesdeutsche Stromgigant Rheinisch-Westfälisches Elektrizitätswerk (RWE) hat in den USA nicht seinesgleichen. Lediglich die Staatsunternehmen Electricité de France und die italienische ENEL machen mehr Umsatz, aber bei weitem weniger Profit als RWE. Energiekonzerne sind natürliche Monopole, deren Macht durch politische Verfilzungen und Symbiosen noch verstärkt wird. Sie nutzen diese Position aus, um die Verwertungsbedingungen für das eingesetzte Kapital langfristig zu sichern, Extraprofite zu machen und den Nationalstaaten Steuern vorzuenthalten.
Die Höhe des Strompreises beeinflußt nicht nur die Konkurrenzfähigkeit der stromverbrauchenden Industrie, sondern häufig auch deren Gewinne. Im Powerplay um die Höhe der Stromrechnung kauften sich deutsche Chemieriesen eine Scheibe vom französischen Atomkraftwerk Cattenom. Für die Anlieferung des Stroms müssen aber entweder Leitungen gebaut oder Durchleitungsrechte erkauft werden. Der Kampf um die Netze ist in vollem Gange. Die Europäische Gemeinschaft möchte für die Netze von leitungsgebundenen Energien das „common carrier“-Prinzip (die allgemeine Nutzbarkeit des gesamten Netzes) einführen, um so „Marktbedingungen“ zu kreieren. In den Niederlanden und in Großbritannien wurde erfolgreich der Versuch unternommen, durch die Ausgliederung des Netzes einen gewissen Wettbewerb der Stromanbieter zu schaffen. In der Bundesrepublik versuchen energiepolitisch bewußte Kommunen, die Verfügung über Stromleitungen und Energieerzeugungsanlagen auf ihrem Gebiet zurückzukaufen – die Regierung vergab diesen energiepolitischen Gestaltungsspielraum und überließ die Neuordnung der Energiewirtschaft den führenden westdeutschen Stromkonzernen. Die Trennung von Erzeugung und Netz sei völlig unakzeptabel, ließen diese verlauten, wohl wissend, daß die Chance, die Stromversorgung von 16 Millionen Menschen vom Kraftwerk bis zur Steckdose zu übernehmen, in der Branche ein Jahrhundertgeschäft ist.
Das Energienetzwerk ist zugleich für den Zustand unserer Umwelt verantwortlich. Das Waldsterben, die Atomkatastrophe von Tschernobyl und die Bedrohung der Erdatmosphäre zeigen schlaglichtartig, welche umweltvernichtenden Dimensionen die Energieproduktion hat. Doch die Schuldfrage ist nicht einfach zu beantworten: In erster Linie sind jene Unternehmen und Staaten verantwortlich, die das Geschäft mit der Energie betreiben. Mitschuldig sind die Beschäftigten der Bergbau- und Energiewirtschaft, der Automobilindustrie, des Transport- und Verkehrswesens auf Straße, Schiene und zur See sowie in der Luftfahrt. Ohne Öl, Gas oder Strom würden alle Räder und Turbinen stillstehen, würde es diese Arbeitsplätze nicht geben. Mitschuldig sind jedoch auch die tagtäglichen Nutzer. Unsere Zivilisationsform an sich ist das Problem.
Kann es die Menschheit schaffen, die eingefahrenen Verbrauchsmuster in den Industrieländern schnell genug zu ändern, um der drohenden Klimakatastrophe zu entgehen? Wenn nicht die USA und die UdSSR als Hauptverursacher mit gutem Beispiel vorangehen, bleiben nationale Alleingänge der Europäer bei der Reduzierung des Treibhausgases Kohlendioxid (CO2) wirkungslos. Da CO2 nicht weggefiltert werden kann, bietet nur die Kombination von drastischen Energieeinsparungen bei gleichzeitigem Übergang auf dauerhafte Energieträger einen Ausweg. Eine Begrenzung der Emission um 20 Prozent bis zum Jahre 2005 würde die Industrieländer nur etwa 1 Prozent des Bruttosozialprodukts kosten, aber gleichzeitig die ernormen Kosten des Treibhauseffektes einsparen. Die Macht- und Interessenstruktur der Energiekonzerne verhindert das Umschwenken jedoch bisher.
Im Zeichen der Klimakatastrophe wird die Atomenergie als angeblich CO2-freie Energiequelle erneut angepriesen. Aber selbst in Industrieländern läßt sich der Primärenergiebedarf mit den heute vorhandenen Reaktoren wegen der begrenzten Uranvorkommen nicht nuklear decken. Nur durch den Übergang auf Schnelle Brüter kann der Atomanteil nennenswert gesteigert werden, dafür aber fehlt die Akzeptanz. In den Entwicklungsländern entfällt die atomare Option ohnehin weitgehend, denn sie ist zu teuer, die erforderlichen Fachleute sind nicht vorhanden, und militärischer Mißbrauch ist nicht auszuschließen. Von einem Atomfrühling ist nur in Frankreich und Japan – Ländern mit starken Planungsmechanismen – die Rede. Sie verfolgen damit eine gegenläufige Politik zur Linie der Ölmultis, die sich unter dem Eindruck der Tschernobyl-Katastrophe vom Uran-Geschäft verabschiedet haben. Die Ostblockländer werden dagegen – trotz positiver Politiker-Aussagen in diesen Tagen – aus ökonomischen Gründen dazu gezwungen, ihre Atomprogramme letztlich doch zu stoppen.
Der Ausbau alternativer Energiesysteme konkurriert nicht nur mit der vorhandenen Infrastruktur, auch die Verfügungsfrage stellt sich bei Sonne und Wind gänzlich anders. Aber nicht nur kleine Länder wie Dänemark setzen auf die Alternativenergien. Als führend gilt der US-Bundesstaat Kalifornien – immerhin das achtgrößte regionale Wirtschaftspotential der Welt. Heute kommen bereits sechs Prozent des kalifornischen Stromverbrauchs aus Blockheizkraftwerken, Erdwärme, Biogas, Sonne und Wind. Die Pionierrolle Kaliforniens hat wesentlich dazu beigetragen, daß in den USA kleine, dezentrale Kraftwerke gebaut werden. In Schweden soll der Energiebedarf nach dem Ausstieg aus der Atomenergie im Jahre 2010 durch Biogas, Sonne und Wind weitgehend gedeckt werden. Solche Zuwächse sind angesichts des verschwindend kleinen Anteils von dauerhaften Energieträgern am gegenwärtigen Energieverbrauch viel zu gering, um am Vorabend der Klimakatastrophe weltweit das Steuer herumzuwerfen.
Lutz Mez arbeitet am Institut für Innenpolitik und Systemvergleich der FU Berlin und ist Leiter der Arbeitsgruppe „Energie und Umwelt“ der Forschungsstelle Umweltpolitik.
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