LEBENSWELT UND TECHNIK: Die Aids-Revolution unseres Bewußtseins
Der Höhepunkt der weltweiten Aids-Verbreitung ist lange nicht erreicht. Doch schon kündigt sich ein Paradigmenwechsel im Umgang mit der eigenen Gesundheit, mit uns selbst an. Medizin und Technologie können vor der Krankheit nicht bewahren, sondern nur ein verändertes individuelles und kollektives Verhalten. So widersprüchlich es klingt: Die Immunschwäche bietet die Chance, unsere Gesellschaften auf der Basis von Selbstverantwortlichkeit, Solidarität und Toleranz fundamental zu erneuern. ■ VON JONATHA MANN
Heute, im San Francisco des Jahres 1990, können wir Aids als eine Revolution im Gesundheitswesen erkennen, als dramatischen, historischen Bruch mit der Vergangenheit, als eine Umwälzung, die unser individuelles und kollektives Leben beeinflußt und von der es keinen Weg zurück gibt. Denn keine andere Krankheit oder Epidemie in der Weltgeschichte stellte den Status quo so sehr in Frage wie Aids. Nie zuvor – auch nicht in der Zeit der großen europäischen Pestepidemien – hat ein Gesundheitsproblem dazu geführt, so umfassend über die Gesundheit der Individuen und der Gesellschaft neu nachzudenken – und damit auch über unsere sozialen und politischen Systeme.
Jedes Jahr haben wir uns zur Internationalen Aids-Konferenz getroffen und erlebt, wie sich unsere individuelle und kollektive Sicht entwickelte – zugleich mit der Epidemie. Jedes Jahr sind wir in unserem Verständnis der Pandemie und unserer selbst vorangeschritten – denn jedes dieser bemerkenswerten Jahre verlangte das intellektuelle Gewicht und die emotionale Kraft eines ganzen Jahrzehnts.
Heute, 1990, wissen wir mehr; wir sind erfahrener; aber auch unsere Sorgen sind größer geworden. Denn die Geschwindigkeit der Veränderung war hoch – und die Kollision mit unseren alten Überzeugungen war manchmal heftig.
Um einzuschätzen, was wir erreicht haben, um zu verstehen, wie Aids zum Prüfstein wurde, an dem sich die Zukunft der Gesellschaft erweist, müssen wir einmal mehr von den Tagesfragen Abstand gewinnen, die allgemeinen Umrisse der Pandemie untersuchen und ins Gedächtnis rufen, wie die Gesamtsumme von zehn Jahren Arbeit die Glaubenssysteme und Institutionen der Vergangenheit in Frage stellte und zu verändern begonnen hat.
Das wichtigste Merkmal der HIV-Pandemie liegt darin, daß sie sich noch immer in einem relativ frühen Stadium ihrer Entwicklung befindet. Dies hat drei Konsequenzen: erstens, die Pandemie kommt nicht zum Stillstand und bleibt dynamisch; zweitens stehen uns ihre wichtigsten Auswirkungen noch bevor; und drittens bleiben uns noch gewaltige Möglichkeiten, um ihren zukünftigen Verlauf zu beeinflussen.
Die HIV-Infektion breitet sich weiterhin aus und nimmt in einigen bereits befallenen Populationen schnell zu, insbesondere in Afrika, Lateinamerika und der Karibik, und ist in neu befallenen Regionen wie Osteuropa, dem Nahen Osten und Südostasien weiter auf dem Vormarsch. Im letzten Jahr machte die Epidemie in Thailand die wachsende Gefahr der Pandemie deutlich; heute müssen wir die Aufmerksamkeit auf Indien lenken, wo die heterosexuelle Übertragung die schnelle Ausbreitung der Epidemie anheizte – schon heute übertrifft sie die Epidemie in Thailand. Diese neue Welle von HIV-Infektionen hat ernsthafte Konsequenzen für die Zukunft Asiens.
HIV gehört heute zur globalen Umwelt; die Möglichkeiten zur globalen Verbreitung von HIV bleiben enorm groß. Bis zu 20 Prozent der fünf oder mehr Millionen injizierender Drogenkonsumenten auf der Welt wurden bisher mit HIV infiziert – die übrigen sind für die explosive HIV-Verbreitung überaus anfällig. In der Epidemie der injizierenden Drogenkonsumenten erkennen wir eine neue Front in Südostasien, darunter der östlichste Teil Indiens, Myanmar, Thailand und Teile Südchinas – alle im Zusammenhang mit dem „Goldenen Dreieck“. Zusätzlich illustrieren auf der ganzen Welt weit über 100 Millionen neue Fälle sexuell übertragener Krankheit auf dramatische Weise, welch enormes Potential für die sexuelle Verbreitung von HIV existiert.
Da die HIV-Epidemie einigermaßen neu ist, steht uns ihre eigentliche Auswirkung noch bevor. Gesundheits- und Sozialsysteme stehen bereits unter hoher Belastung, um den heutigen Bedürfnissen der Betreuung HIV-infizierter und kranker Menschen zu entsprechen – dabei dürfte nach Schätzungen die Zahl der Menschen, die Aids entwickeln, in den neunziger Jahren um das Zehnfache steigen. Die Auswirkungen der Weltepidemie, die in den siebziger Jahren begann, werden wahrscheinlich noch zunehmen – bis hinein in die erste Dekade des 21. Jahrhunderts.
Schließlich impliziert die noch kurze Geschichte der Pandemie jedoch auch, daß uns große Möglichkeiten bleiben, ihren zukünftigen Verlauf zu beeinflussen. Es gibt kein Land und keine Population, wo der Kampf gegen Aids verloren wäre – solange er nicht aufgegeben wird. Viele Länder treten erst in die kritische Eröffnungsphase ihrer HIV-Epidemie ein – in Asien, in Osteuropa, in Mittel- und Südamerika. Die endgültigen Umrisse der globalen Pandemie sind noch nicht klar erkennbar; letztlich werden sich hier – in der Prävention neuer Infektionen – die stärksten Auswirkung auf die Weltgesundheit zeigen. Wo steht also der weltweite Kampf gegen Aids? In wenigen kurzen, bemerkenswerten Jahren wurde der Grundstein gelegt für die wachsende Kontrolle dieser neuen weltweiten Gefahr für die Gesundheit. Dennoch bergen heute das Tempo und die zunehmenden Auswirkungen der Pandemie die Gefahr, daß die gegenwärtigen Kapazitäten zur Prävention der Infektion und zur Betreuung für die Infizierten und Kranken nicht mehr ausreichen.
Denn die Epidemien in Afrika, Lateinamerika, in der Karibik und Südostasien kommen nicht unter Kontrolle – sie weiten sich aus. Die teuer bezahlten Lektionen von San Francisco, Amsterdam, Sydney und Nairobi werden nicht systematisch befolgt: In vielen Gemeinschaften bleibt die Information noch immer unangemessen, ungenau oder offen irreführend; für viele Menschen fehlen notwendige Gesundheits- und Sozialdienste; an vielen Orten schwärt die Bereitschaft zur Diskriminierung und Bestrafung – und daher erhält in einer solchen Umgebung die Prävention keine echte Chance.
Die Kluft zwischen Arm und Reich verbreitert sich – zwischen den Ländern und in den Ländern selbst. Fast zwei Drittel der bis heute auf der Welt aufgetretenen Aids-Fälle und drei Viertel der HIV-infizierten Menschen leben in Entwicklungsländern. Aber die Kosten für Medikamente und Pflege machen in Entwicklungsländern „frühes Eingreifen“ zu einem bedeutungslosen Begriff; AZT bleibt für die meisten Menschen, die es brauchen, zu teuer. Die jährliche Gesamthilfe der industrialisierten Welt zum Kampf gegen Aids in den Entwicklungsländern wird auf 200 Millionen Dollar pro Jahr oder weniger geschätzt; im letzten Jahr waren die Gesamtausgaben für die Aids- Prävention und –Pflege allein im Staat New York fünfmal so hoch. Das Gesamtbudget des durchschnittlichen nationalen Aids-Programms in der Dritten Welt ist niedriger als die Pflegekosten für lediglich 15 Aids-Kranke in den Vereinigten Staaten.
Das ist die Pandemie heute: die 700.000 Menschen, die bisher Aids entwickelt haben, die rund acht Millionen, die bereits infiziert sind – eine junge Pandemie, die sich weiterhin beschleunigt. Wir wissen, daß eine Welt mit einer sich ausbreitenden Aids-Epidemie nicht sicher sein kann. Aber trotzdem bedrohen mehr als jemals zuvor Selbstzufriedenheit, Indifferenz, Ablehnung und eingefahrene Verhaltensweisen den Erfolg des Kampfs gegen Aids. Entweder stützen wir uns auf das bereits Erreichte, bauen es aus und erweitern es, oder wir werden in den kommenden Jahren mit dem Tempo der weltweiten Epidemie immer weniger Schritt halten können.
In den achtziger Jahren hatte bei der Auseinandersetzung mit Aids niemand eine Revolution im Sinn. Die Menschen versuchten eher, so gut sie konnten, die HIV-Infektion zu verhindern, die Infizierten und Kranken zu betreuen und die nationalen und internationalen Bemühungen zu verknüpfen. Dennoch traten in dieser Arbeit die Mängel unserer Gesundheits- und Sozialsysteme so offen und schmerzlich zutage, daß das Paradigma der Gesundheit vor Aids – ihre Philosophie und Praxis – in Frage gestellt wurde und sich als verzweifelt unzureichend erwies und damit auf verhängnisvolle Weise als überholt.
Worin besteht dieses Paradigma der Gesundheit, das Aids so nachhaltig in Frage gestellt hat? Welche Ereignisse, welche Vorgehensweisen, welche Gedanken waren in der Rückschau revolutionär? Welche Themen eines neuen Gesundheitsparadigmas hat Aids ins Leben gerufen?
Unser ererbtes Paradigma konzentrierte sich auf die Entdeckung der externen Erreger von Krankheit, Invalidität und vorzeitigem Tod. Unvermeidlich lag die Betonung auf der Medizin und der Technologie, Experten und Ingenieure waren beteiligt; für bestimmte Zwecke erwies sich dieser Ansatz als recht wirkungsvoll. Die in diesem Paradigma enthaltenen sozialen Ansichten enthielten eine fundamentale Dichotomie zwischen Individuum und sozialen Interessen; dementsprechend und in Übereinstimmung mit dem Zeitgeist waren Regierungen zur Vermittlung aufgerufen, Krankheit durch Gesetze und die Tätigkeit der Bürokratien zu verhindern. Gesichtspunkte des sozialen und gesellschaftlichen Verhaltens wurden häufig nur rudimentär und naiv berücksichtigt. Des öfteren griff man zu Zwangsmaßnahmen; viele öffentliche Gesundheitssysteme identifizierten Leistungsfähigkeit mit der zunehmenden Befugnis zu Zwangsmaßnahmen, und die Menschenrechte wurden nur selten erwähnt, außer im begrenzten Zusammenhang der Reaktion auf offiziellen Machtmißbrauch.
Während der vergangenen zehn und mehr Jahre hat sich dieses Paradigma zunehmend als nur begrenzt fähig erwiesen, mit den Gesundheitsproblemen der modernen Welt fertigzuwerden. Die kritische Rolle des individuellen und kollektiven Verhaltens wurde anerkannt; denn trotz billiger und wirksamer Kindheitsimpfungen war auf der ganzen Welt nur etwa jedes zweite Kind immunisiert; wir lernten, daß Frauen gegenüber unerwünschtem oder ungeschütztem Geschlechtsverkehr nicht nein sagen konnten – solange sie nicht auch über die soziale, ökonomische und politische Macht verfügten, diesem Nein auch Nachdruck zu verleihen; wir entdeckten, daß Atomkraftwerke nicht mit absoluter Sicherheit betrieben werden können, denn es gab den sogenannten „menschlichen Faktor“ von Three Mile Island oder Tschernobyl – und es wird ihn immer geben.
Dann trat plötzlich Aids auf – und seine Auswirkungen auf die alte Denkstruktur, auf Institutionen und Praxis waren ebenso bemerkenswert und unerwartet, aber irgendwie auch ebenso unvermeidlich wie der Fall der Berliner Mauer.
Betrachten wir nur einige der revolutionären Ideen und Handlungen der letzten zehn Jahre.
Zunächst wurde, da weder Medikamente noch Impfstoffe zur Verfügung standen, im Kampf gegen Aids sofort dem Verhalten zentrale Bedeutung zugemessen. Im Blickpunkt stand besonders das sexuelle Verhalten – und hier erwies sich jede Gesellschaft sehr schnell als zutiefst unwissend. Die allgemeine Vernachlässigung des Verhaltens in der vorherrschenden Philosophie und Praxis des Gesundheitswesens wurde auf schockierende Weise offenbar.
Dann erschütterten gesundheitliche und soziale Zwänge – zur Prävention und zur Betreuung HIV-infizierter und aidskranker Menschen – die Selbstzufriedenheit angesichts unserer Gesundheits- und Sozialsysteme. Aids riß den Schleier fort, der Mängel und Ungerechtigkeiten verhüllt hatte: in der Organisation und Durchführung der Gesundheitsfürsorge und sozialen Dienste, in der Vernachlässigung von Gruppen innerhalb der Gesellschaft, im niedrigen Stellenwert der Gesundheit. Zudem artikulierten HIV-infizierte und aidskranke Menschen ihre Bedürfnisse mit einer Klarheit und in einer Weise, auf die bestehende Strukturen und Dienste häufig von Grund auf schlecht vorbereitet waren.
Als nächstes erklärten HIV- infizierte Menschen, Menschen mit Aids und die als Gruppen „mit hohem Risiko“ etikettierten Menschen ihre feste Absicht, sich an den Prozessen der Prävention, Betreuung und Forschung zu beteiligen, statt sich ihnen einfach zu unterwerfen. Die Schockwellen dieser mutigen Entscheidung zur Beteiligung sind noch nicht abgeklungen; sie hat die klinische Forschung in Frage gestellt und tief empfundene Grundüberzeugungen über die Rolle infizierter und kranker Menschen erschüttert.
Die Beteiligung weitete sich noch aus, als Tausende von Gemeinde- und Basisorganisationen auf häufig verzweifelte Bedürfnisse zur Prävention und Betreuung reagierten. Die herrschende Meinung, die Regierung sei der Hauptakteur beim Schutz der Gesundheit, wurde durch die Realitäten der Basisaktionen und des Basisaktivismus in Frage gestellt.
Dann fiel uns – einigermaßen unerwartet – auf, daß wir zur Sprache der Menschenrechte und menschlichen Würde gegriffen hatten. Denn in welchem anderen Bereich der Gesundheit, zu welcher anderen Zeit haben wir in dieser Form von „Rechten“ und „sozialer Gerechtigkeit“ sprechen hören? Mit den Begriffen der Menschenrechte – Kampf gegen Diskriminierung, für Gleichheit und Gerechtigkeit – wurde nicht nur der Inhalt der Politik und der Vorgehensweisen der Institutionen in Frage gestellt, sondern auch der Prozeß, in dem Politik formuliert und Entscheidungen getroffen werden.
Dies und vieles andere – die Erkenntnis, daß Aids ein Problem der ganzen Welt ist, das Abhalten dieser Konferenzen, das Erinnerungsprojekt und andere Ausdrücke der Liebe – hat die Art und Weise geändert, in der wir über Gesundheit, Individuen und Gesellschaft denken. Zu welcher neuen Vision – mit welcher Einsicht und Macht zur Förderung von Gesundheit und Verhinderung von Krankheit – führt uns Aids heute?
Der Schlüssel zu dem neuen Paradigma ist die Erkenntnis, daß das individuelle und kollektive Verhalten in Zukunft zur größten Herausforderung des öffentlichen Gesundheitssystems wird. Durch die Verlagerung des Hauptakzents auf das Verhalten – in seinem sozialen, ökonomischen und politischen Kontext – wird das neue Paradigma Zwang durch Unterstützung ersetzen, Diskriminierung durch Toleranz gegenüber der Vielfalt. Es wird notwendig werden, neue Denkweisen über persönliche und soziale Identität und Interaktion zu entwickeln. In Zukunft können die Begriffe der Aufnahme, Anpassung und Symbiose relevanter und nützlicher werden als alte Dichotomien von extern gegen intern oder individuell gegen kollektiv. Ebenso wie Aids die Trennungslinien zwischen der Rolle von Pathogenen und der Rolle der Immunität in der persönlichen Gesundheit verwischt, muß das kommende Paradigma der Gesundheit ein neues Verständnis der Bedeutung von intern und extern enthalten – und eine neue Definition dessen, was das Selbst ist und was der andere.
In unserem heutigen Sprachschatz – denn neue Worte können sich als erforderlich erweisen – beschreibt Solidarität einen zentralen Begriff in dieser sich entwickelnden Perspektive für Gesundheit, Individuen und Gesellschaft. Die Aids-Pandemie hat uns viel über Solidarität gelehrt. Wir hatten viel zu lernen, daher hat es einige Zeit gedauert.
Die Basis der Solidarität ist Toleranz und Nichtdiskriminierung – die Weigerung, die Lebensbedingungen der wenigen vom Schicksal der vielen zu trennen. Solidarität entsteht, wenn Menschen erkennen, daß übersteigerte Unterschiede zwischen Menschen das gesamte System destabilisieren. Mitleid ist individuell; Solidarität ist inhärent sozial – sie gilt sozialer Gerechtigkeit – und daher auch ökonomisch und politisch.
Aids hat uns zu der Erkenntnis verholfen, daß Solidarität zum Teil eine Konsequenz der objektiven Bedingungen des späten 20. Jahrhunderts ist. Zum Beispiel sind Reisen und Freizügigkeit Teil des modernen Lebens – aber niemals zuvor sind so viele so weit und so häufig gereist wie heute; seit 1950 hat sich die offizielle Zahl der international Reisenden auf mehr als das 15fache erhöht. Im selben Maße, wie die Schranken der geographischen und kulturellen Distanz schwinden, spiegelt das System, in dem wir leben – von den Produkten, die wir konsumieren, über die Luft, die wir atmen, bis zu den krankheitserregenden Viren in unserer Umwelt – eine zunehmende weltweite Verknüpfung und Abhängigkeit. Das bietet auch infektiösen Erregern eine nie dagewesene Möglichkeit zu schneller pandemischer Verbreitung; HIV ist vielleicht nur der erste Virus, der diese Situation voll nutzt – aber wahrscheinlich nicht der letzte. Glücklicherweise beginnen wir auch, die Konsequenzen dieser Globalisierung zu verstehen und darauf zu reagieren; wir erkennen Weltsolidarität – unfertig, in stetem Kampf, aber dennoch real – in der Gründung der Vereinten Nationen, in der Sorge angesichts eines Atomkriegs, in der wachsenden weltweiten Entschlossenheit zum Schutz der Umwelt und im weltweiten Kampf gegen Aids.
Aber Solidarität kann nur existieren, wenn die gegenseitige Abhängigkeit real ist und als solche empfunden wird. Empfindung ist wichtig; die Erfahrung mit Aids hat gezeigt, daß irgendeine Form persönlicher Verbindung mit von Aids betroffenen Menschen ein mächtiger Auslöser für größere Toleranz und menschliches Verständnis ist. Aids demonstriert das Paradox, daß ein Thema nur dann ein wirkliches Weltthema wird, wenn es auch extrem persönlich ist. Es kann durchaus sein, daß wir politische Neuerungen brauchen, um neue Impulse der Solidarität ausdrücken zu helfen und um neue Brücken zwischen Individuen, ihrer lokalen Gemeinschaft und der Welt zu entwickeln.
Aids hat auch unser Verständnis von Solidarität vertieft, indem die Mängel von zwei ihrer Alternativen deutlich wurden: Zwang und Diskriminierung.
Wir alle haben persönliche Erfahrungen mit dem Zwang, der zur Beeinflussung von Verhalten eingesetzt wird – wir haben ihn erlebt, und wir haben ihn eingesetzt. Grundlegend bleibt jedoch eine Frage: Funktioniert Zwang wirklich – und wenn, bis zu welchem Ausmaß und wie lange?
Die vorliegenden internationalen Erfahrungen mit Aids flößen uns Skepsis gegenüber dem Zwang ein, denn es gibt – wenn überhaupt – kaum einen Beleg, daß Zwang einen positiven Einfluß auf das Verhalten ausübte. Dennoch hören wir noch immer Menschen sagen, infizierte Menschen sollten „bestraft“ werden, auch durch Isolation und Quarantäne. Es besteht noch immer der Mythos, in der Quarantäne stehe uns das stärkste Mittel der öffentlichen Gesundheit zur Verfügung – vielleicht weil hier der Zwang am deutlichsten ist. Bei genauerer Untersuchung erweist sich Quarantäne jedoch als recht beschränkt anwendbar oder nützlich, sie ist – was häufig ignoriert wird – sozial und ökonomisch kostspielig, und ihre Auswirkungen auf ein Aids-Präventionsprogramm sind fast mit Sicherheit weitgehend kontraproduktiv.
Schließlich lernten wir aus den Erfahrungen unter vielen verschiedenen nationalen Bedingungen, daß die Diskriminierung HIV-infizierter Menschen vermieden werden muß, wenn ein Aids-Präventionsprogramm wirksam sein soll. Deshalb ist der Schutz von Rechten und menschlicher Würde eine zentrale Frage in jedem Aids-Programm. Diskriminierung senkt die Beteiligung an Programmen zur HIV-Prävention und vermindert damit ihre Wirksamkeit, und Diskriminierung ist auch ein „Risikofaktor“ für die HIV-Infektion. Die Empfänglichkeit für die HIV-Infektion nimmt, wo Menschen diskriminiert oder sozial an den Rand gedrängt werden, aus mehreren Gründen zu: Ihr Zugang zu Information und Präventionsdiensten wird beschränkt; sie haben weniger Einfluß auf den Entwurf von Präventionsstrategien, und insbesondere haben sie weniger Macht und Möglichkeiten, die notwendigen Schritte zum eigenen Schutz zu unternehmen.
Während daher Maßnahmen zum Schutz der Menschenrechte allein noch kein wirksames Aids-Programm garantieren, ist die Verweigerung von Menschenrechten mit einer effektiven Aids-Prävention und –Kontrolle offensichtlich unvereinbar.
Daher haben wir durch Aids begonnen, alte, überholte Annahmen über Bord zu werfen, wir haben soziale Mythen mittels sozialer Realitäten in Frage gestellt, und wir stellen einmal mehr die einfache, grundlegende, schreckliche Frage nach unserem persönlichen und kollektiven Leben. Unsere Erfahrung hat uns zu diesem Punkt gebracht – die auf Menschenrechte gegründete Solidarität als den entscheidenden Prüfstein zu entdecken und anzuerkennen, als die zentrale Einsicht einer neuen Ära.
Wie können wir heute durch unsere Arbeit diese Solidarität stärken, die auf die objektiven Bedingungen und Bestrebungen unserer Zeit antwortet? Als erstes müssen wir unsere Macht erkennen. Individuen und kleine Gruppen können die Bestrebungen ganzer Völker zum Ausdruck bringen und beschleunigen. Weiter müssen wir daran arbeiten, mehr Menschen an den Entscheidungen zu beteiligen, die sie betreffen – wer immer sie sein mögen.
In diesem Prozeß müssen wir auch mehr über Menschenrechte lernen. Die Forderung nach Achtung und Respektierung der Menschenrechte ist in der Charta der Vereinten Nationen enthalten – ebenso wie in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte. Alle Staaten sind daran gebunden, ungeachtet der Details jedes politischen Systems. Unser Ziel sollte nicht nur darin liegen, den Mißbrauch der Menschenrechte zu verhindern, sondern die Bedingungen für die Förderung der Menschenrechte und Menschenwürde schaffen zu helfen – und dies erfordert bewußte, aktive und hartnäckige Arbeit. Uns fällt unter anderem die Verantwortung zu, Aids-Programme auf kommunaler, nationaler und internationaler Ebene auf die Wahrung der Menschenrechte zu überprüfen. Im Zusammenhang mit Aids nicht nach Menschenrechten zu fragen, führt nur dazu, daß die Diskriminierung verstärkt wird.
Und wo Diskriminierung institutionalisiert ist – in dem US- Gesetz über ausländische Besucher, in den Aids-Sanatorien auf Kuba, in der Zwangsuntersuchung und Einreiseverweigerung für infizierte Ausländer in Saudi-Arabien oder China –, müssen wir uns zu Wort melden. Schließlich müssen wir den Mut aufbringen, unsere unmittelbare Umgebung genau anzusehen. Denn die schwierigsten Probleme bestehen in unseren eigenen Ländern: Arbeitsprobleme, Gesundheitsbetreuung, Versicherung, Schulbesuch und Diskriminierung im Alltag.
Wer hätte vor lediglich zehn Jahren – es erscheint wie ein Jahrhundert – voraussagen können, was wir erlebt haben; wer hätte sich die besonderen Formen des Mutes und der Kreativität vorstellen können, deren Zeugen wir wurden; und wer hätte die Kühnheit aufgebracht zu denken, daß Aids die Geschichte unserer Zeit nicht nur spiegelt, sondern auch dabei hilft, sie neu zu gestalten? Der zukünftige Historiker wird viele Fragen, die uns heute bewegen, gar nicht wahrnehmen; das Paradigma, das wir anstreben, wird in der Rückschau als selbstverständlich gelten. Wenn diese Geschichte jedoch geschrieben ist, wird die Entdeckung des unauflöslichen Zusammenhangs zwischen den Menschenrechten und Aids, und allgemeiner gesprochen zwischen Menschenrechten und Gesundheit, zu den größeren Entdeckungen und Fortschritten in der Geschichte des Gesundheitswesens und der Gesellschaft zählen. Denn die Bedeutung der Aids-Revolution reicht über Aids allein weit hinaus. Solidarität auf der Grundlage der Menschenrechte hebt das Niveau der Toleranz, die jede Gesellschaft ihren eigenen Mitgliedern und anderen gewährt; dies ist von entscheidender Bedeutung für Aids, für die Gesundheit im allgemeinen und für die Zukunft unserer politischen Institutionen.
Der zukünftige Historiker wird erkennen, daß wir das Privileg hatten, dabeizusein und an der Schaffung neuer Welten des Denkens und Handelns teilzunehmen – an einer Revolution auf der Grundlage des Rechts auf Gesundheit.
Hier, in San Francisco, stehen wir vor einer ungewissen Zukunft. Unsere Solidarität darf uns jetzt nicht verlassen. Hier, in der Stadt, in der die Charta der Vereinten Nationen unterzeichnet wurde, in dieser Stadt, die sich Ruhm erworben hat im weltweiten Kampf gegen Aids, bringen wir unsere Anerkennng und unseren Dank zum Ausdruck, für all jene, die uns im Leben wie im Tod die Macht ihrer Liebe gelehrt haben; hier ehren wir all jene, die uns in unserer Suche nach Verständnis und nach dem Ausdruck der Liebe, den wir Solidarität nennen, geleitet haben.
Denn über den Tag hinaus wird uns bewußt, welche Revolution des Denkens Aids ausgelöst hat – und wie die Integrität und Ganzheit unserer Arbeit mit dem instinktiven Streben verbunden ist, mit einem emotionalen Bedürfnis, unsere menschliche Solidarität auszudrücken. Denn wir sind Bestandteil einer größeren Revolution, die Hoffnung, nicht Verzweiflung mit sich bringt, Hoffnung für uns selbst, Hoffnung für den Kampf gegen Aids – und Hoffnung für die Zukunft der Welt.
Jonathan Mann war bis Mai dieses Jahres Direktor des Global Aids Program der Weltgesundheitsorganisation. Diesen Vortrag hielt er auf dem Welt-Aids-Kongreß 1990 in San Francisco.
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