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■ Kulturelle Mischungen: Brasilien und DeutschlandAnnäherung statt Differenz

Muniz Sodré ist Schriftsteller, Anthropologe und Direktor für Kommunikationswissenschaften an der staatlichen Universität Rio de Janeiro. Der Afrobrasilianer setzt sich mit der kulturellen Kreativität der „cultura negra“ auseinander und ist Vertreter eines neuen schwarzen Kulturbewußtseins. Das Interview wurde anläßlich einer Konferenz im Berliner „Haus der Kulturen der Welt“ geführt.

taz: Herr Muniz, Sie sagen, daß die „cultura negra“ mehr über Symbole organisiert ist, was mehr Flexibilität beinhaltet. Im Gegensatz dazu konstituiert sich heute die westliche Kultur wesentlich über den Begriff. Die symbolische Dimension wurde zurückgedrängt.

Muniz Sodré: Eine Kultur, die sich auf Symbole gründet, ist offen für Ambivalenz und Flexibilität. Das Symbol organisiert, es benennt nicht. Der Sinn wird sozial gefüllt. Das Symbol ist also ambivalent, da es nichts bedeutet, kann es einmal das eine sein, das andere Mal etwas anderes, es hängt von dem jeweiligen Moment und Kontext ab. Ein Denken wie das westliche, das ein begriffliches Denken ist, ist ein bestimmendes Denken. Es ist ein Denken, das die Differenz produziert und sie auch annehmen kann. Wir haben hier einen tiefen Unterschied zwischen zwei zivilisatorischen Paradigmen. Ein Denken der Annäherung ist ein Denken der existentiellen Suche im Erlebnis der einzelnen nach etwas allen Menschen Gemeinsamem, unabhängig davon, welche Hautfarbe er hat oder welcher Kultur er angehört. Es ist die Erfahrung des Heiligen, unabhängig davon, welcher Religion er angehört oder ob er Atheist ist, er wird vom Heiligen durchdrungen. Das Heilige ist für mich die Palette von Möglichkeiten, die jedes menschliche Wesen in sich hat, diese virtuelle Kreativität, dieser ursprüngliche Ort, von dem aus sich alle Menschen entfalten können.

Können wir den Herausforderungen, die sich aus den Migrationsbewegungen ergeben, mit einem um die „Differenz“ zentrierten Denken überhaupt begegnen?

Annäherung ist eine expansive Bewegung. Auf individueller Ebene ist es eine expansive Bewegung der Körper. Auf Gruppenebene ist es eine Bewegung der Eroberung von Territorium. Annäherung ist etwas Politisches, weil die Schwarzen in Brasilien gezwungen wurden, eine Kultur unabhängig von einem Territorium zu kreieren, wie das auch bei den Juden der Fall ist. Die Diaspora der Sklaven brachte eine Kultur ohne eigenen Raum hervor. Die Schwarzen hatten weder Land, noch gehörte ihnen ihre Behausung. Ihnen fehlte auch ein Interaktionsraum. Damit meine ich Raum im topologischen Sinne. So kann man sagen, daß die schwarze Kultur in der brasilianischen Diaspora eine Territorium konstituierende Kultur ist. Ein Territorium ist ein Ort der Annäherung, ein Ort der Begegnung.

Wie sahen nun die Kommunikationsstrukturen genau aus, mit denen die Schwarzen in Brasilien sich einen Raum in der gesamten Gesellschaft eroberten?

Am Anfang des Jahrhunderts durften in Rio de Janeiro Schwarze nicht durch den Vordereingang in die Häuser der weißen Oberschicht einkehren. Als die Schwarzen anfingen, den Reichen Gitarrenunterricht zu geben, konnten sie als Lehrer durch den Vordereingang hineingehen. Die Linke hat das Gewicht, das diese Tatsache für die Schwarzen angenommen hat, stets belächelt. Für den Schwarzen war das aber wichtig. Er konnte jetzt das ihm vorher verbotene Territorium betreten. Die Musik ist die Waffe, mit der er ein ihm nicht zugängliches Territorium erobert und dieses mit den Besonderheiten seiner Mentalität neu konstituiert.

Ein anderes Beispiel war das „Sambahaus“ einer Priesterin Anfang des Jahrhunderts in Rio de Janeiro. Ihr Haus war sozusagen eine Metapher für diese Strategien der Eroberung. Im Vorderteil des Hauses wurden Bälle gegeben, die den Normen der gehobenen Gesellschaft entsprachen. Im mittleren Teil war ein Restaurant, wo die Gäste essen konnten. Im hinteren Teil des Hauses wurden jedoch religiöse Kulte praktiziert sowie „samba rasgado“ getanzt, ein Tanz, der in der Öffentlichkeit als unmoralisch verpönt war. Das Ballhaus funktionierte wie eine spanische Wand, wie eine Raummetapher der Widerstandshaltung der schwarzen Kultur. So wurde ihre Tradition in einer verdeckten Form weitergeführt. Mit den Bällen zog man wichtige Persönlichkeiten der Stadt an, die für den Fall, daß die hinteren Aktivitäten des Hauses aufflogen, Protektion gegen Polizeiübergriffe geben konnten. Die Struktur dieses Hauses ist wie ein semiotisches Dispositiv der Übereinkunft und der Verhandlung. Das sind die Strategien der schwarzen Kultur. Gekämpft wird nur als letzter Ausweg.

In Europa und den USA scheinen die Forderungen nach „rechtlicher“ Absicherung kultureller Differenz das größte Gewicht zu haben.

Die Strategien der schwarzen Kultur sind Ausdruck einer historischen Kontingenz, sie ist nicht als bewußte Strategie entstanden. Sie entsprang der kulturellen Dynamik, der religiösen Vorstellung dieser Gruppe. Sie beinhaltet, daß der Axé (Kraft und Hoffnung) sich ausdehnen und wachsen muß. Das kommt nur zustande, wenn die Körper sich allem, was im Raum vorhanden ist, annähern und in Berührung kommen, sowohl mit der Natur als auch mit anderen Menschen. Sich den Weißen und Herrschenden zu nähern wird von dem Axé gefordert. Axé ist keine Kraft der Trennung, der Differenz, sondern Kraft der Annäherung.

In den USA und Europa läuft die Auseinandersetzung um Integration von Minderheiten im Rahmen eines Diskurses der Menschenrechte und demokratischer Dispositive, in dem die Forderungen nach Gesetzen die Auseinandersetzung bestimmen. Dieser Diskurs hat allerdings einen Haken, wenn er allein bestimmend ist und auf die Alltagskultur ausgedehnt wird, führt er zur Gettoisierung. Das ist, was sich in den USA abspielt: jede Minderheit ist repräsentiert, aber im Alltag bleibt jeder Affe auf seinem Baum. Sie haben die gleichen Rechte, sind aber untereinander getrennt. Sie kommen nur äußerlich in Kontakt.

Die Strategien der Verhandlung, nach der sich die schwarze Kultur richtet, ist sowohl ein äußerlicher wie ein innerlicher Prozeß. Im Spiel der Annäherung kommen Körper und Seele eine Rolle zu. Die Vermischung zwischen den Ethnien spielt dabei eine entscheidende Rolle, denn das Zusammenkommen der Körper und der Seelen macht die Annäherung durchdringender. Verhandeln ist hier nicht nur ein juristischer und politischer Vorgang, er ist vor allem ein spiritueller. Vielleicht ist es besser, von Psyche zu sprechen, ich befürchte, daß von spirituellem Vorgang zu sprechen hier in Deutschland auf Befremden stoßen wird. In Brasilien hat die Dimension der Religion, des Sakralen eine wesentliche Rolle in der Verführung der Weißen gespielt. Die Weißen wurden durch die Schwarzen über den Zauber angezogen. Was sie dazu geführt hat, sich durch die „schwarzen“ Markierungen des Territoriums angezogen zu fühlen und sich ihnen zu öffnen, waren das Essen, der Tanz und die Magie.

Eine nur äußerliche Annäherung, wenn sich z.B. Minderheitenrechte auf juristischer Ebene durchsetzten, Quotenregelungen etwa, griffe also zu kurz?

Dann ist nur „Weißheit“ enthalten, um metaphorisch zu sprechen. Im Fall der Annäherungsstrategien der „cultura negra“ in Brasilien spielt sich die Eroberung des Territoriums so ab, daß er sein Schwarzsein im Prozeß der Eroberung dem Territorium zufügt. Wenn sich aber die Annäherung nur juristisch vollzieht, dann bewegt man sich, zum Beispiel im Falle von Deutschland die Türken oder die Frauen, in dem Territorium, das ihnen vorher nicht zugänglich war, nach den Regeln der dominanten Kultur, und sie haben dem herrschenden Raum nichts Eigenes hinzugefügt, nichts Türkisches, nichts Weibliches. Gleiches Recht kann auf materieller Ebene dem einzelnen Erfolg bringen, aber vom Standpunkt der Annäherung von Seele und Körper geschieht nichts. Das Gegenteil wird der Fall sein. Die Konsequenz einer nicht stattgefundenen Annäherung ist, daß die Deutschen immer deutscher werden und die Türken immer türkischer.

Der Türke wird weder in die Türkei gehören noch nach Deutschland. Er wird an einem anachronistischen Bild der Türkei hängen und versuchen, einem Bild zu entsprechen, das die Realität, in der er lebt, nicht auszudrücken vermocht hat, und wird in dieser Übertreibung von den Deutschen verachtet. Er wird übertreiben wie das Mädchen, das in Frankreich darauf bestand, mit dem Tschador in die Schule zu gehen. Sie hat dies getan, weil sie ihrer Umgebung mitteilen wollte: „Schaut her, wie anders ich doch bin.“ Es ist wichtig, eine Flexibilität dem Territorium gegenüber zu haben: Sie kann ja den Schleier benutzen, wenn sie Lust hat. Aber es wird problematisch, wenn sie meint, notwendigerweise einen Tschador tragen zu müssen. Dieser Fundamentalismus hat Konsequenzen für Beziehungen unterschiedlicher Gruppen in einem Territorium, weil es den Zustand des Flusses, der unabdingbar für eine Annäherung ist, unterbricht. Interview: Thomas Hartmann

und Tatiana Lima Curvello

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