Kultur: Wokewashing Otello
Die Stuttgarter Oper schmückt sich gerne mit woken Inszenierungen und progressiver Selbstdarstellung. Jetzt hat sie die Rolle des Otello mit einem verurteilten Frauenschläger besetzt – und löst eine Diskussion über Schuld, Sühne und Machtstrukturen aus.
Von Elena Wolf
Erst ein paar Monate ist es her, dass die Stuttgarter Oper internationale Aufmerksamkeit für die Aufführung der radikal-feministischen Kult-Opernperformance „Sancta“ bekam. Zeitungen und Medienberichte waren voller Überschwang ob des Überwältigungstheaters von Florentina Holzinger. Auf „Kessel TV“ gibt es bis heute Shirts zu kaufen, auf denen „In der Oper gewesen, gekotzt“ steht. Ein wohlwollender Gag. Denn als berichtet wurde, dass manche Besucher:innen im ab 18 Jahren freigegebenen Stück Ohnmachts- und Kotzanfälle hätten wegen der expliziten Darstellung von Gewalt, Blut und Sexualität („Nach 15 Minuten sind ALLE NACKT“, „Bild“), erlangte „Sancta“ schnell Kultstatus auch unter weniger eingefleischten Opernfans. Vor der Oper demonstrierten während der Spielzeit im Sommer christliche Fundamentalist:innen. Und auch der hiesige Chefkatholik Stadtdekan Christian Hermes warf Holzinger „kitschige sexuell-spirituelle Erlösungsträume“ vor und kritisierte das Stück scharf, in dem religiöse Gefühle „entgegen aller sonst gepflegten politischen Korrektheit obszön verletzt“ würden. Alles richtig gemacht für eine feministische Oper, könnte man sagen.
Umso irritierender, dass die Oper Stuttgart, die sich seit Jahren progressiv, diversitätssensibel, feministisch und im besten Sinne woke – also aufgeweckt, kritisch und wachsam gegenüber Diskriminierung und Missstand – geriert, jetzt eine Personalentscheidung getroffen hat, die alles andere als aufgeweckt ist: Der Otello in der gleichnamigen Oper von Giuseppe Verdi wurde in der zweiten Runde seiner Aufführung mit einem verurteilten Gewalttäter besetzt. Dem Tenor Alfred Kim.
Die Besetzung ist zynisch
Im März 2017 schlug er in einem Hotelzimmer im französischen Toulouse den Kopf einer ihm offenbar sexuell unwilligen Frau nach ein paar Gläsern Weißwein so lange gegen Wände und eine Kloschüssel, bis der Deckel zerbrach. Sicherheitsleute und Zimmernachbarn beendeten das Martyrium der Frau. Kim wurde festgenommen, kam vor Gericht und wurde zu acht Monaten auf Bewährung und 8.000 Euro Geldstrafe verurteilt. Außerdem musste er die Kosten für die Absage der letzten Aufführung von Verdis „Ernani“ am Théatre du Capitole in Toulouse übernehmen. Dort hatte er die Hauptrolle inne, wegen seiner Festnahme konnte das Stück nicht aufgeführt werden. Kim will sich laut Berichten französischer Zeitungen aus dem Gericht wegen des Alkohols an nichts mehr erinnert haben und sei eigentlich gar nicht so ein Mann. Er entschuldigte sich im Gerichtssaal, akzeptierte seine Strafe. Fall beendet. Im Dezember 2017 spielte er in Frankfurt direkt wieder in Verdis „Troubadour“.
Der Intendant und Geschäftsführer der Oper Frankfurt Bernd Loebe meinte damals auf Anfrage von Medien, dass sich Kim „stets tadellos benommen“ habe. Außerdem habe er zwar einen „schweren Fehler begangen“, aber „seine gerechte Strafe erhalten und dafür gebüßt“. Kim selbst hat sich nie öffentlich zum Vorfall im Toulouser Hotel geäußert.
Jetzt spielt er den Otello in Stuttgart. Einen Frauenmörder, der einen Femizid begeht. Und diese Besetzung ist so zynisch wie die mediale Verklärung tödlicher Gewalt von Männern gegen Frauen im echten Leben als „Beziehungsdrama“. Aus rasender Eifersucht erwürgt Otello seine Geliebte Desdemona, weil er einer Intrige zum Opfer gefallen ist und fälschlicherweise glaubt, dass sie ihn betrügt. Am Ende ersticht sich Otello selbst neben den sterblichen Überresten seiner Begierde. Davor der obligatorische letzte Kuss. Fertig ist die Hochkultur. Wie Tenor Kim mit den kognitiven Dissonanzen umgeht, die beim Re-Enacting körperlicher Gewalt gegen eine Frau entstehen könnten, bleibt ungewiss. Eine Kontext-Anfrage an ihn blieb unbeantwortet.
Auch, was sich die Oper dabei gedacht hat, Verdis Otello (Uraufführung im Jahr 1887) unter der Regie von Silvia Costa zwar einen postkolonialen Überbau zu verpassen, aber Otello mit einem verurteilten Frauenschläger zu besetzen, wirft Fragen auf. Einerseits möchte die Oper –ganz am Puls der Zeit – die Themen „Antirassismus“ und „Postkolonialismus“ auch im Hochkulturbetrieb verwursten und lässt die 1984 geborene Italienerin Costa ihre weißen Mittelschichts-Bauchgefühle für Schwarze über Otello stülpen. Zwar ist nach dem Opernbesuch völlig unklar, was der „Mohrenfürst“ Otello mit Videoinserts über George Floyd und „Black Lives Matter“ zu tun hat, weil die Themenkomplexe einfach nicht verzahnen. Doch immerhin hat die Oper ein Gefühl dafür bewiesen, dass man den Otello in seiner ursprünglichen Version im Jahr 2025 nicht mehr aufführen kann. Andererseits fiel Costa und den Stuttgarter Opermachern offenbar nicht auf, dass zur Ehrenrettung eines rassistischen und misogynen Alte-Weiße-Männer-Schinkens vielleicht auch ein wacher Umgang mit der Besetzung gehört. Also nicht nur inszenierte, sondern gesellschaftlich angewandte Wokeness.
Keiner hat die Frauen von der Oper gefragt
Das Gefühl, dass die Oper es nicht so ernst meint mit der Wachsamkeit für Diskriminierung und Missstand, hatten auch Frauen, die an der Produktion des Stuttgarter Otello beteiligt sind. Im Oktober stolperten sie über einen Kommentar unter einem Facebook-Post der Staatsoper Stuttgart: „‘Viva! Evvia Otello!‘ – So wie der Staatsopernchor Stuttgart in Giuseppe Verdis Oper den siegreichen Feldherrn bejubelt, so feiern wir in den kommenden Wochen den großen Komponisten: Viva Verdi! [...]“, schrieb die Oper. Darunter hat einer namens „Siegfriedsson“ vier Zeitungslinks internationaler Medien zum Gerichtsfall um Alfred Kim gepostet und die Frage gestellt: „WARUM dürfen sich solche gefährlichen Menschen noch im Glanze des Applauses sonnen?“ Das fragen sich auch die Frauen, die sich nicht zitieren lassen wollen, aus Angst vor arbeitsrechtlichen Folgen. Das müssen sie aber auch nicht, denn ihre Frage ist keine, die ein Bauchgefühl betrifft. Sie ist eine, die tiefer sitzt und die Öffentlichkeit angeht:
Ist es das Privatproblem von Frauen, im Arbeitsumfeld ungefragt einen Mann vorgesetzt zu bekommen, der eine andere Frau schon durch ein Hotelzimmer geprügelt hat? Ist es einfach ihre Verantwortung, wenn sie ein Problem damit haben, ihn zu schminken, ihm die Haare zu machen, mit ihm zusammen zu singen, sich in seiner Anwesenheit kreativ zu öffnen, ihm körperlich nahe zu kommen bei der Arbeit? Gefragt hat die Frauen von der Oper jedenfalls niemand. Denn für die Männer auf Führungsebene ist mit der Personalakte Kim alles tutti:
„Natürlich“ seien „im Vorfeld des Engagements auch mögliche Bedenken aufgrund seiner Biografie hinsichtlich der Symbolwirkung berücksichtigt“ worden, erklärt Opernintendant Viktor Schoner auf Kontext-Nachfrage. Doch die Besetzung des Otello sei „nach künstlerischen Kriterien“ erfolgt, da Kim „in Fachkreisen wie auch international als herausragender Sänger“ gelte, „dessen Profil besonders durch die Partie des Otello geprägt“ sei. „Ausschlaggebend waren dann die seit seiner Strafverbüßung ausnahmslos positiven Rückmeldungen aus der Branche zu seinem professionellen Verhalten, das Vertrauen in unsere in den letzten Jahren entwickelten und funktionierenden internen Schutzstrukturen sowie unsere tiefe Überzeugung, dass jeder Mensch in einem rechtsstaatlichen Verständnis und Kontext eine zweite Chance verdient“, erklärt Schoner weiter.
Fair enough. Der Resozialisierungsgedanke. Ein zentraler und wichtiger Grundsatz des deutschen Strafrechts. Die berühmte zweite Chance. Selbst jemand, der einen anderen Menschen getötet hat, kann und soll in Deutschland wieder vollwertiges Mitglied der Gesellschaft werden, wenn er sich gut anstellt. Tenor Kim hat niemanden getötet. Aber eine Frau verdroschen. Und da er sich so „professionell“ verhalten hatte, stand er direkt nach dem Ende seiner Bewährungszeit wieder als Opernsänger auf der Bühne. Werfe den ersten Stein, wer noch nie im Suff den Kopf einer sexuell unwilligen Frau auf eine Kloschüssel geknallt hat.
Selbstverständlich ist jeder Mensch unter gewissen Umständen in der Lage, eine Straftat zu begehen, ja im Zweifel sogar zu töten. Doch die Frage ist hier nicht die nach einer ewigen Verbannung und öffentlichen Ächtung. Die Frage ist, wie eine Gesellschaft mit den Problemen, die der Resozialisierungsgedanke mit sich bringt, umgeht. Denn offensichtlich gibt es ein Problem, wenn ausgerechnet ein verurteilter Frauenschläger in einer Staatsoper einen Frauenmörder spielt und beteiligte Frauen selbst herausfinden müssen, mit wem sie da in teils intimen Situationen zusammenarbeiten. Ausgerechnet im Otello. Einem kolonialistischen Stück, das heutzutage nur resozialisierbar ist, weil ihm ein vorgeblich gesellschaftskritischer Überbau verpasst wurde. Weil Opernbetriebe offenbar ein Problem erkannt haben an einer Shakespeare-Geschichte aus dem frühen 17. Jahrhundert, in der das „schwarze Ungeheuer“ mit den „wulst’gen Lippen“ eine weiße Frau tötet, die Heilige und Hure ist. Die Oper Stuttgart hat also ein Problembewusstsein – zumindest dann, wenn es nicht wehtut und sie sich damit öffentlich als reflektiert und woke geben kann.
Kulturinstitutionen haben eine Verantwortung
Der Resozialisierungsgedanke verlangt nicht, dass jede Position automatisch wieder zugänglich ist. Er bedeutet nicht, dass jemand nach verbüßter Strafe einen Anspruch auf jede Karriere, jeden Beruf oder jede prestigereiche Rolle hat. Er bedeutet nur: Der Staat und die Gesellschaft müssen grundsätzlich ermöglichen, dass ein Leben ohne neue Straftaten wieder möglich wird.
Ebenso haben Kulturinstitutionen eine Verantwortung der Gesellschaft gegenüber. Sie wirken symbolisch, sind Aushängeschilder gesellschaftlicher Werte und arbeiten in hochgradig hierarchischen Strukturen, in denen Schutzbedürftige (junge Sängerinnen, Solistinnen, Assistentinnen, Praktikantinnen) besonders verletzlich sind. Ein verurteilter Gewalttäter hat zwar ein Recht auf ein Leben ohne erneute Stigmatisierung. Aber er hat kein Recht auf jede Bühne.
Kulturelle Spitzeninstitutionen repräsentieren gesellschaftliche Leitbilder. Sie verkörpern Werte, oft explizit, in Diversity-Statements, „Mission Statements“, „Codes of Conducts“ und ihren Inszenierungen. Wenn eine Institution, die sich nach außen als progressiv darstellt, für eine Oper über den Mord eines Mannes an einer Frau einen Hauptdarsteller engagiert, der brutale Gewalt gegen eine Frau ausgeübt hat, dann sendet das Signale: auf symbolischer Ebene, dass Gewalt gegen Frauen verzeihlich ist; auf interner Ebene, dass Sicherheit und Würde der Mitarbeiterinnen nachrangig sind; und auf struktureller Ebene, dass Männer in Leitungsposten über Betroffene hinweg entscheiden.
Nicht erst seit #MeToo ist bekannt, dass Männer in Machtpositionen über Jahrzehnte hinweg im Kulturbetrieb ungeahndet Grenzen überschreiten oder Gewalt ausüben konnten. Nicht immer strafbar, aber im Arbeitsumfeld hochproblematisch. Durch Abhängigkeiten von Engagements, Schweigekultur, fehlende unabhängige Beschwerdestellen, Genie-Kult, Machtgefälle zwischen künstlerischer Leitung und Ensemble und durch Hierarchien, in denen fast immer Männer die Intendanten, Dirigenten, Chefdramaturgen sind, wurde der Resozialisierungsgedanke immer und immer wieder missbraucht, um problematische Entscheidungen zu kaschieren: James Levine, „Amerikas Top-Maestro“ („Time Magazin“), wurde trotz jahrzehntelanger Missbrauchsvorwürfe lange gedeckt. Der Opernsänger Plácido Domingo hatte erst kürzlich wieder einen Auftritt in Bonn, obwohl mehr als 20 Frauen in der Vergangenheit von Belästigung berichteten. Charles Dutoit, Dirigent, konnte jahrelang weiterarbeiten trotz Belästigungsvorwürfen.
Es geht nicht ums Canceln, sondern um die Grautöne
Der Otello-Fall steht nicht isoliert da. Er ist vielmehr eingebettet in starke Machtstrukturen des Hochkultur-Kosmos, die seit jeher Männer begünstigen und Betroffene marginalisieren. Mittlerweile ist das sogar Gegenstand wissenschaftlicher Forschungen, wie etwa der Beitrag „Enabling the King(s) of Opera“ der US-amerikanischen Musikwissenschaftlerin Anna Valcour eindrucksvoll belegt.
Nur weil Alfred Kim juristisch rehabilitiert ist, heißt das nicht, dass die Stuttgarter Oper als öffentliche Kulturinstitution von der Verantwortung für die Auswirkungen ihrer Personalentscheidung befreit ist. Sie kann Kims Vergangenheit nicht einfach auf der Beletage abhaken. Sie kann sich nicht mit dem Resozialisierungsargument vor Kritik schützen, wenn sie es ernst meint mit sich selbst: „Wie sollte denn Ihrer Meinung nach mit straffällig gewordenen Menschen nach ihrer Rehabilitation umgegangen werden?“, fragt der Pressesprecher Sebastian Ebling in einem aufrichtig-interessierten Mailaustausch mit Kontext. „Für immer canceln?“
Nein. Darum geht es eben ausdrücklich nicht. Es geht um die Grautöne zwischen Schwarz und Weiß. Es geht um die Frage, warum die Leitungsebene der woken Stuttgarter Oper offenbar kein ernstzunehmendes Problem erkannte und sich keiner darüber Gedanken gemacht hat, mal die Frauen an der Oper bei dieser brisanten Besetzungsfrage miteinzubeziehen.
Der Oper stünde es gut zu Gesicht, sich nicht nur nach außen progressiv zu gerieren, sondern nach innen auch dementsprechend zu handeln. Dann könnte sie als Kulturinstitution, die #MeToo ernst nimmt und patriarchale Machtstrukturen kritisiert, Resozialisierung mit Transparenz, Sensibilität und fairer Kommunikation ihren Angestellten gegenüber kombinieren. Und bei der nächsten Besetzung einer männlichen Starrolle mit einem verurteilten Schläger vielleicht vorab dafür sorgen, dass Frauen nicht erst über Facebook davon erfahren. Communication is key. Das mag für einige Männer ein Novum sein. Doch Übung macht bekanntlich das Meisterwerk.
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