piwik no script img

KulturDie Poesie des Arbeitsalltags

Der Verein SchreibArt kümmert sich um die Aufarbeitung eines bisher kaum beachteten Kapitels deutscher Literatur: Er befasst sich mit den Zirkeln schreibender ArbeiterInnen in der DDR. Ein Amerikaner hilft nun bei der Erforschung der Lyrik und Prosa

Tabuthema Mauer. Das Archivbild von 1962 zeigt einen Soldaten der Nationalen Volksarmee der einen Bauarbeiter bei der Reparatur der Mauer nahe der Bernauer Strasse beaufsichtigt. Bild: Ap

Aus dem obersten Zimmer des Turmgebäudes der Niles Ausbildung gGmbH hat man einen tollen Blick über Weißensee. Schaut man steil hinunter, sieht man auf die Dächer alter Backsteingebäude. Hier wurden vor einigen Jahrzehnten, als der Betrieb noch Werkzeugmaschinenkombinat 7. Oktober hieß, Zahnflankenschleifmaschinen produziert. Und auch ein bisschen Lyrik und Prosa. Das geschah nach Feierabend im betrieblichen "Zirkel schreibender Arbeiter". Nach der Wende hat er sich wie alle anderen Zirkel schreibender Arbeiter, Genossenschaftsbauern und Soldaten in der DDR aufgelöst.

Was von ihnen an Aufzeichnungen, Anthologien, Chroniken und Urkunden erhalten geblieben ist, wird zum großen Teil in dem rund 30 Quadratmeter großen Turmzimmer aufbewahrt. An der Tür steht "SchreibArt e. V". Zu dem Verein gehört neben einem Lesepodium und einer Schreibwerkstatt das Archiv schreibender ArbeiterInnen. Man kann schwerlich behaupten, dass es einen festen Platz im Berliner Kulturerbe hätte. In den vergangenen Jahren ist es sechsmal umgezogen, zuletzt vor wenigen Monaten aus Hohenschönhausen nach Weißensee. Die weit über 30.000 Dokumente sind inzwischen alle in Regalen verstaut - neben DDR-Literaturzeitschriften und Büchern zahlreiche Unikate von unveröffentlichten Lyrik- und Prosamanuskripten, Zirkeltagebücher, Urkunden und Betriebseditionen. In etlichen Kartons lagern ganze Literaturzirkelsammlungen aus Volkseigenen Betrieben (VEB). Die Kartonbeschriftung liest sich wie das Whos Who der DDR-Volkswirtschaft: Carl Zeiss Jena, Schiffselektronik Rostock, Filmfabrik Wolfen, Leuna-Werke, Berlin Chemie.

Die Pappkisten enthalten die Ergebnisse einer Schreibbewegung, die der Schriftsteller Werner Bräunig 1959 im Auftrag der SED in Gang gebracht hatte. "Greif zur Feder, Kumpel!", rief der Exbergmann auf einer Bitterfelder Konferenz von Autoren den Proletariern der DDR zu.

Jürgen Kögel war in den 60er Jahren zwar kein Kumpel, sondern ein junger Orchestermusiker; er spielte in Leipzig und Jena. Aber auch Kögel griff zur Feder. "Ich wollte schreiben lernen und suchte Publikum, um nicht im eigenen Saft zu schmoren." Kögel schloss sich einer Gruppe von Laienschreibern im Haus der Deutsch-Sowjetischen Freundschaft in Mitte an. "Mich interessierte das Schreibhandwerk, zum Beispiel, wie man eine Dramaturgie im Text erzeugt." Ein Schriftsteller erklärte es ihm und den anderen. 1974 fand Kögel einen Verlag in Halle (Saale), der seinen Erzählband "Sprechen im Dunkeln" veröffentlichte, das erste von vier Büchern. Das schafften nicht viele Zirkelmitglieder.

Vielleicht war es späte Dankbarkeit dafür, dass er seine Leidenschaft zum Nebenberuf machen konnte, vielleicht hat er auch nur nicht Nein sagen können, als er 2002 gefragt wurde, ob er den ehrenamtlichen Job des obersten Nachlassverwalters der rund 300 Zirkel schreibender Arbeiter in DDR-Betrieben und Kulturhäusern übernehmen würde. Jedenfalls sagte Kögel zu, zumal er als Cellist im Berliner Sinfonieorchester gerade pensioniert worden war. "Ich wusste nicht, was auf mich zukommt", erklärt er heute. Ein paarmal hätte er fast aufgeben wollen, weil die Arbeitsbedingungen und die Finanzierung so schwierig gewesen seien. Er hat es dann doch nicht getan.

Der 73-Jährige hält SchreibArt nicht für einen Ostalgieverein, bloß weil er etwas bewahrt, was vielen Menschen heute lächerlich erscheint. Auch wenn die Lyrik und Prosa der schreibenden Werktätigen oft eher von Schlichtheit als von literarischer Relevanz geprägt ist, hält Jürgen Kögel sie für einen Teil deutscher Kulturgeschichte. "Die Texte geben durchaus Einblick, wie die DDR-Bürger gelebt haben, was sie im Alltag, in der Arbeit oder in der Liebe bewegte." Der frohgemute Herr schwärmt geradezu von den offenen, hitzigen Diskussionen, die es in seinem Zirkel über den sowjetischen Einmarsch in Prag 1968 oder später über die Biermann-Ausbürgerung gab. Ob das anderswo auch so gewesen ist, vermag er nicht zu sagen: "Mich würde auch mal interessieren, ob die Stasi einzelne Mitglieder oder die Zirkel als Ganzes überwacht hat."

Womöglich wurden die Zirkel von den DDR-Sicherheitsorganen gar nicht so ernst genommen. Schließlich taugten die Ergebnisse des Schöpfertums selten dazu, in den Schreibwerkstätten einen Hort oppositionellen Gedankenguts zu sehen. "Es gab natürlich Tabuthemen wie die Mauer, die auch gemieden wurden. Ansonsten war das Niveau der Texte sehr unterschiedlich, genau wie der Ehrgeiz der Mitglieder", sagt Kögel. "Manche schrieben einfach nur eine Hochzeitszeitung oder ein Geburtstagsgedicht, andere Novellen, Liebesverse oder ein Buchmanuskript."

Natürlich findet sich im Nachlass der Laienpoeten genug platte Ergebenheitslyrik, um sich heute über das "sozialistische Volkskunstschaffen" zu beeumeln. So reimte etwa eine junge Genossin in ihrer Ode "Mein Lehrer - die Partei":

"Einen rechten Standpunkt haben lehrtest du mich, du - Partei /

Dass nicht eine meiner Gaben ziellos und verloren sei."

Ironische Kritik an den Verhältnissen äußerte sich dagegen in einem Gedicht gewordenen Traum eines Arbeiter aus dem Kabelwerk Oberspree in Schöneweide:

"Es klingt absurd, doch ich verrat es Ihnen /

Mir ist heute Nacht im Traum Karl Marx erschienen. /

Er schaut mich so versonnen an und spricht mit Vorwurf: Was denn, weiter seid ihr nicht? /

Seit 40 Jahren habt ihr die Macht in Händen und trotzdem fehlt es euch an allen Enden!"

Das von den Hobbyliteraten Verfasste wurde unter anderem in Betriebszeitungen oder in Sammlungen wie den Deubner Blättern, herausgebracht vom Braunkohlenkombinat Deuben, veröffentlicht. Als die DDR-Betriebe ab 1990 reihenweise dichtmachten oder zumindest sämtliche vormals sozial- und kulturpolitisch verordnete Last abwarfen, entsorgten sie auch die Hinterlassenschaften der Zirkel. "Wir haben uns das Material von Betrieben, Bibliotheken und Kulturhäusern aus dem ganzen Osten schicken lassen oder selbst abgeholt", berichtet Britta Suckow, die das Archiv 1992 mitgegründet hat. "Die Zirkel selbst haben sich zwar meist aufgelöst, aber einige wandelten sich auch in literarische Freundeskreise um."

Von Literaturwissenschaftlern wurde das Archiv bisher kaum beachtet. Umso erstaunlicher, dass nun ein Amerikaner dabei ist, diesen sonderbaren Zweig der DDR-Literatur zu ergründen. William Waltz, Germanistikdoktorand an der Universität Wisconsin-Madison, erforscht das Narrative im autobiografischen Schreiben. Der 47-Jährige hatte durch eine ehemalige Zirkelleiterin in Halle (Saale) von dem Berliner Archiv erfahren und nutzt es nun im Rahmen eines zehnmonatigen FU-Stipendiums für seine Arbeit.

Um sein Laptop herum liegen jahrzehntealte Blätter und Manuskripte. "Aus kulturhistorischer Sicht interessiert mich, dass es in der DDR diesen Anspruch einer Geschichtsschreibung von unten gab. Bemerkenswert finde ich zumindest, dass sich alle Zirkelmitglieder freiwillig und gern am Schreiben unter Betreuung versuchten." Betreutes Schreiben, schön gesagt.

Dass die DDR-Zirkel schreibender Arbeiter ein Stück deutscher Kulturgeschichte sind, findet auch der Amerikaner. Er kennt sich gut aus mit ihrer Historie, weiß, dass auch bekannte DDR-Schriftstellerinnen als Zirkelpaten in der Provinz tätig waren: Brigitte Reimann etwa in Hoyerswerda, Christa Wolf im Waggonwerk Ammendorf in Sachsen-Anhalt.

"Das ist schon sehr interessant, auch wenn die Sache politisch dominiert war. Was nicht auf Linie war, wurde in den Anthologien nicht veröffentlicht." Solche Textsammlungen, die in etlichen Betrieben oder im Gewerkschaftsverlag Tribüne erschienen (zum Beispiel "Körnchen Gold" zu Ehren des 20. Republikgeburtstages 1969) stehen zuhauf in den Regalen des Weißenseer Archivs. Für William Waltz ist es eine Fundgrube für seine Doktorarbeitrecherche, auch wenn bisher nur wenige Dokumente digitalisiert wurden.

Es gab zuletzt noch andere Probleme: Von den vom Jobcenter bezahlten Stellen für zwei Mitarbeiterinnen wurde kürzlich eine nicht verlängert. Die Begründung sei fadenscheinig, sagt Jürgen Kögel, aber die Hoffnung, dass der Widerspruch Erfolg hat, gering. Allen Widrigkeiten zum Trotz will das Archiv seine Arbeit fortsetzen und in diesem Jahr eine Ausstellung des Dortmunder Fritz-Hüser-Instituts für deutsche und ausländische Arbeiterliteratur mit einer Leihgabe unterstützen. In Dortmund hatte sich vor 50 Jahren die Gruppe 61 gegründet (unter anderem mit Max von der Grün und Günter Wallraff), aus der der Werkkreis Literatur der Arbeitswelt hervorging. Die Chefin des Fritz-Hüser-Instituts würde den Berliner Bestand nur allzu gern übernehmen. "Die Experten können die Bedeutung der Sammlung schon sehr genau einschätzen", sagt Jürgen Kögel.

Heutzutage, wo sich der Arbeiter vor allem darum sorgt, arbeitender Arbeiter sein zu dürfen, scheint das Schreiben als Feierabendbetätigung gleichwohl so von gestern wie Straßenschlachten für Studenten. Erstaunlich verbreitet ist die literarische Betätigung neben dem Job jedoch ausgerechnet in der Beamtengruppe der Polizisten. Auf der Internetseite Polizei-Poeten.de veröffentlichen etliche von ihnen regelmäßig Texte, in denen sie sich mit ihrem seelisch belastenden Arbeitsalltag auseinandersetzen. Einige Schreibarbeiten ("Die Angst ist dein größter Feind - Polizistinnen erzählen") wurden bereits in Büchern veröffentlicht.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen

3 Kommentare

 / 
  • PD
    Prof. Dr. Rüdiger Bernhardt

    Ich habe den Artikel erst jetzt lesen können; Freunde hatten mich darauf aufmerksam gemacht. Es ist verdienstvoll, über die schreibenden Arbeiter zu berichten. Nur wird man der Bewegung mit einer flotten und leicht geschriebenen Recherche nicht gerecht. Es ist keineswegs so, dass es keine Aufmerksamkeit für schreibende Arbeiter gibt. Zum 50jährigen Jubiläum der Bitterfelder Konferenz fand eine informative Konferenz in Bitterfeld statt, zahlreiche Publikationen - von Tageszeitungen über die Fachpresse bis zu Büchern, auch im Rundfunk, WDR - erschienen. In der Universität Lille III fand im April 2009 eine vielbeachtete Konferenz zur Arbeiterkultur statt, in dem die Bewegung schreibender Arbeiter der DDR Thema des Eröffnungsreferates war. Die Konferenz wird demnächst gedruckt vorliegen u.v.n.

     

    Es sind auch Fehler zu korrigieren: Nicht Werner Bräunig hat die Bewegung in Gang gebracht, er stiftete das oft missverstandene Motto. Die Bewegung war die Folge von Entwicklungen, die sich seit der Mitte der fünfziger Jahre in den Volkskunsthäusern vorbereitet hatten.Und völlig fehlgeleitet wird man, geht man nur von den gedruckt vorliegenden Materialien aus, die allerdingds auch umfänglicher sind als in dem Artikel angedeutet. Der entscheidende Absatz und Zweck war, wie es Kögel auch anspricht, die Befähigung zum Kunstverständnis, der sachverständige Umgang mit Literatur und die Allgemeinbildung. Diesen Teil der Bewegung kann man nur schwer dokumentieren und es ist ein großes und schönes Anliegen von Bill Waltz, dass er durch Interviews mit ehemaligen Schreibenden diesen Bereich zu sichern versucht, den man nur mit Briefwechseln, Erinnerungen und Aussprachen retten kann.

    Und schließlich: Man sollte nicht so beiläufig von ein bisschen Lyrik und Prosa sprechen. Schon zu DDR-Zeiten sind zahlreiche Bücher aus der Bewegung gekommen, was ursprünglich nicht ihr Ziel war, und Schriftsteller haben sich im Umkreis der Zirkel ihre Themen gesucht, von Christa Wolf, von der eine der schönsten Aussagen über die Bedeutung der Zirkel stammt, und Heiner Müller bis zu Hans-Jürgen Steinmann. Nach der Wende sind einige Schreibende aus der Bewegung produktive Schriftsteller geworden: Erhart Eller (aus Weißenfels) mit neun Büchern, Rudi Berger (aus einem Dorf bei Gera) mit sieben. Sie haben natürlich keine Lobby, da sie ihre Thematik, die sozialkritische Aufarbeitung der Gegenwart, fortsetzen. Da bleiben ihnen nur kleine Verlage, aber immerhin gibt es in der linken Presse (unsere zeit, RotFuchs, Marxistische Blätter u.a.) Aufmerksamkeit für sie und zunehmend auch im Ausland (Polen). Dagegen hat es der Lyriker Lutz Seiler, der 2010 sogar mit dem Erzählband "Zeitwaage" für den Buchpreis zur Messe nominiert war, auch ein ehemaliger schreibender Arbeiter, zu höchsten Ehren geschafft. Seine Auszeichnungen sind zahlreich. Lyrik hat ihre eigenen Publikumsgesetze, deshalb hatte er Erfolg. Aber in seinen Gedichten findet man, wenn man seine Herkunft kennt, auch noch die Beziehungen zu den schreibenden Arbeitern und ihren Betrieben.

    N ur ganz nebenbei und am Rande wollte ich diese Hinweise geben.

     

    Mit freundlichem Gruß

    Rüdiger Bernhardt

  • BS
    Britta S.

    Bleibt noch nachzutragen:

    Das Archiv befindet sich in der Gehringstr. 39 in 13088 Berlin,

    Tel. 96248234 (auch nachzulesen auf der Seite www.schreibartev.de).

  • PN
    Petra N.

    Einige dieser Zirkel sind heute noch recht aktiv, z. B. der Friedrichshainer Autorenkreis, der einstige Zirkel der Drucker des Neuen Deutschland. Es sind auch Jüngere hinzugestoßen sowie ein paar "Wessis" wie ich. Ich schätze die Zusammenkünfte, weil ich dort fachkundigen Rat erhalte.