Kultur-Untergang: Laster und Tugend
Hamburger Soundtrack
von Nils Schuhmacher
Eine in dieser Kolumne schon viel zu häufig genannte Band hat es dieser Tage wieder geschafft, sich die Aufmerksamkeit der lokalen Öffentlichkeit zu sichern. Sie musste zu diesem Zweck nicht einmal einen neuen Ton abgeben. Sie musste einfach nur sein – und zwar am sogenannten „richtigen“ Ort, dem diesjährigen Hafengeburtstag. Was den einen groß und wichtig erscheint, wusste Reinhard Mey, wird unter Veränderung der Perspektive plötzlich nichtig und klein. Und dies gilt auch andersherum.
Deshalb kann es nicht weiter erstaunen, dass es der lokalen AfD gelang, in der nicht genannten Punkband eine akute Gefahr für Staat und Gemeinwesen zu sehen, während andere zu der Einschätzung kommen, dass sie in Sachen Setzung gesellschaftsverändernder Impulse schon länger außer Dienst gestellt ist.
Nun muss man natürlich erwähnen, dass das Hauptproblem in dieser Sache nicht die Abwesenheit eines popkulturellen Sensoriums bei den AfD-Bürgerschaftsabgeordneten ist (ein Blick auf ihre Facebook-Profil legt sogar nahe, dass sie diesbezüglich Abstinenzler sind). Das Problem: Es erwischt letztlich unterschiedslos alle Abweichenden, von denen diese Leute Wind bekommen haben – vermutlich aus der Lügenpresse.
Diese leidvolle Erfahrung musste im vergangenen Jahr schon die Intendantin von Kampnagel, Amelie Deuflhard, machen, die wegen der Unterstützung afrikanischer Flüchtlinge ins Visier der neuen moralischen Kreuzzügler geriet. Und da wären wir auch schon beim Thema. Wo linksextreme Hassmusik den Bestand der freiheitlichen demokratischen Grundordnung (FDGO) aushöhlt und das Fremde die Selbstverständlichkeiten infrage stellt, da fehlt für den Komplettuntergang als Letztes ja nur noch der Frontalangriff auf die christlich-abendländische Kultur.
An diesem Punkt kommen Hildegard von Binge Drinking ins Spiel, von denen Kruse, Baumann und Nockemann garantiert noch nie etwas gehört haben. Das Duo stammt aus dem Bischofssitz Würzburg. Hildegard von Bingen war eine benediktinische Nonne, gilt als bedeutende Universalgelehrte und besitzt den Status einer Heiligen (siehe auch Heiliges Römisches Reich Deutscher Nation, FDGO, Deutsches Bier). Auch mit Musik hat sie zu tun (siehe Hafengeburtstag).
Die Band hingegen kleidet sich zwar nach Nonnenart, verfolgt aber hinter der Fassade der Anständigkeit niedere Absichten (siehe Komasaufen statt maßvoller Genuss). Statt „liturgische[n] Gesänge[n] mit Melodien in diasthematischer Neumennotation“, wie man so schön sagt, in denen Tugend gegen Laster antritt (und Tugend triumphiert), gibt es hier elektronisch aufbereiteten Post-Punk, in dem das Laster bereits vorher gewonnen hat. Tipp für die nächste Anfrage in der Bürgerschaft (Sa, 7. Mai, 21 Uhr, Westwerk).
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