Kuckensema : Surrealer Songcontest: „The Saddest Music in the World“
Das Kino kann uns in die seltsamsten Welten entführen. Einige Filme sehen sogar so aus, als wären sie in fremdartigen Paralleluniversen produziert worden.
Der kanadische Regisseur Guy Maddin bastelt etwa in seinem Gerümpelschuppen in Winnipeg expressionistische Phantasmagorien zusammen, die verloren gegangene Meisterwerke aus der Ära zwischen den Weltkriegen zu sein scheinen. Als wären sie in vergessenen Archiven vom Lauf der Zeit mariniert worden, sind sie grobkörnig und diffus; das Bild ist manchmal zu schnell, der Ton rauscht und die wenigen Farben, die zwischen den Schwarzweißbildern auftauchen, sind verblichen. Inzwischen ist Maddin, der seit seinem Debüt „Tales from the Gimli Hospital“ diesen Stil weiterentwickelte, ein Virtuose in der künstlichen Alterung seiner Werke. Dazu filmt er auf Super-8 und Video mit verschiedensten Filtern.
Und auch die Geschichten, die er in seinen Filmen erzählt, sind eigenwillig und anachronistisch. Mit „Careful“ inszenierte er 1992 den ultimativen deutschen Bergfilm der Riefenstahl-Ära und mit „The Saddest Music in the World“ hat er ein Musical aus der Zeit der Depressionsjahre gezaubert. Kurz vor der Aufhebung der Prohibition in den USA schwimmt ganz Kanada zwar in Alkohol, aber dennoch wurde Winnipeg schon im vierten Jahr von der Londoner Times als „die Welthauptstadt der Sorgen“ ausgezeichnet. Deshalb veranstaltet die Brauereibesitzerin Lady Port-Huntly (Isabella Rossellini) einen Wettbewerb, bei dem die „traurigste Musik der Welt“ prämiert werden soll. Ein Flötist aus Siam tritt gegen eine mexikanische Mariachiband an, eine Flamencosängerin gegen ein Duddelsackensemble, indische Tänzerinnen gegen einen Serben, der auf seinem Cello die Schüsse seines Landsmanns beklagt, die den Ersten Weltkrieg auslösten. Der Gewinner jeder Runde rutscht unter Triumphgeschrei in ein riesiges Fass mit Bier, das bei dieser Show verkauft werden soll.
Die Verwicklungen der Filmfiguren sind noch absurder als der surreale Songcontest: Der aus New York angereiste Chester Kent will den Wettbewerb mit einer großen Shownummer gewinnen, dabei war er mitverantwortlich dafür, dass die Biermillionärin Lady Port-Huntly einst bei einem Unfall beide Beine verlor. Der Arzt, der ihr besoffen das falsche Bein amputierte, singt für Kanada und kann sein Opfer zeitweilig durch zwei Glasprothesen besänftigen.
Der serbische Cellist ist schließlich vor Traurigkeit halb wahnsinnig, weil er Kind und Frau verloren hat, doch dann erkennt er seine Gattin in einer Fremden, die sich aber an nichts erinnern kann. Diese hyperpathetische Erzählung basiert auf einem Werk des Schriftstellers Kazuo Ishiguro – und ist natürlich ein großer Witz. Und dieser ist um so komischer, weil Maddin ihn scheinbar ernsthaft in Szene setzt. Eine Komödie ohne Pointen, ohne Gags und komisches Timing. Die Schauspieler spielen die lächerlichsten Szenen ohne ein Augenzwinkern – etwa wenn Ross McMillian todtraurig sagt: „In diesem Glas ist das Herz meines Sohnes, konserviert in meinen Tränen.“ Und Isabella Rossellini tanzt im tragischen Finale ekstatisch auf ihren mit Bier gefüllten Glasbeinen. Wilfried Hippen