: Kronos verklappt und die Arten schwinden
Neue Untersuchung belegt verheerende Auswirkung der Dünnsäureverklappung in die Nordsee / Artenschwund im Verklappungsbereich von „Kronos-Titan“ / Schwermetalle in Dünnsäure schädigen Lebensraum der Meeresorganismen ■ Von Sylt Olaf Stampf
Die beiden Meeresforscher holen sich „längst kein blaues Auge mehr“, wenn sie „bei Seegang mikroskopieren“ müssen. Für Professor Karsten Reise und seinen technischen Mitarbeiter Manfred Sturm war es eine Routinefahrt, als sie Mitte Juli mit dem Forschungskutter „Uthörn“ in See stachen. Ihr Ziel lag 30 Kilometer nordwestlich von Helgoland: das amtlich festgelegte Verklappungsgebiet der Firma „Kronos Titan“. Dort kippt das Industrieunternehmen aus Nordenham jährlich 200.000 Tonnen Dünnsäure ins Meer - legal. Der eklige Abfall fällt in erster Linie bei der Herstellung von Farbpigmenten an. Professor Reises während der Fahrt entnommene Proben wurden noch an Bord ausgewertet. Die Meeresbiologen machten dabei eine erschreckende Entdeckung, die jetzt veröffentlicht wurde. Bei den auf dem Meeresboden lebenden Tieren war die Artenzahl im Verklappungsbereich durchschnittlich um 36 Prozent niedriger als in einem ausgewählten Vergleichsgebiet. Pro Netzfang von einer Seemeile Länge fanden die Wissenschaftler in der Vergleichszone 18,2, im Verklappungsgebiet von „Kronos Titan“ hingegen nur 11,7 Arten. Die Irrtumswahrscheinlichkeit beträgt ein Prozent Es handelt sich also um sehr verläßliche Werte. Die betroffenen Arten sind, so Reise, „sämtlich für die Nahrungskette im Meer wichtig.“ Der Wissenschaftler betont: „Ich halte den Artenschwund für ein äußerst gravierendes Ergebnis.“ Erstmals sei nun der Nachweis erbracht worden, daß die Dünnsäure mit den in ihr enthaltenen Schwermetallen massiv den betroffenen Lebensraum schädigt.
Professor Reise ist Wissenschaftler am Wattenmeerinstitut in List auf Sylt - neben der Meeresstation auf Helgoland die zweite Außenstelle der Biologischen Anstalt Helgoland (BAH).
Karsten Reises Aufgabe am Institut besteht darin, den „ökologischen Zustand des Nordseebodens zu überwachen“. Dazu wird einmal jährlich das Verklappungsareal von „Kronos Titan“ abgecheckt.
Sein jüngster Fund dürfte den Kollegen vom Deutschen Hydrographischen Institut (DHI) kaum schmecken. Das DHI in Hamburg genehmigt nämlich die Verklappungen, die noch bis Ende 1989 weitergehen sollen. Schon seit 1969 wird die giftige Brühe nahe Helgoland „abgeleitet“. Nach Recherchen von „Greenpeace“ gelangen auf diese Weise pro Jahr 600 Tonnen Titan, 8600 Tonnen Eisen, 48 Tonnen Chrom und 5,6Kilogramm des extrem giftigen Cadmiums ins Meer. Bis 1984 führte das „Institut für Meeresforschung“ in Bremerhaven die routinemäßigen Kontrollmessungen durch. Die damaligen Überwacher versuchten anhand einer „Zeitreihe“ Auswirkungen der Dünnsäure zu registrieren: Sie hofften, daß sich von einem Jahrzehnt zum nächsten Veränderungen im Verklappungsgebiet ausmachen lassen würden. Methodisch der falsche Weg: Faktoren wie „schwere Grundseen“ oder kalte Winter - die natürlich Schwankungen im Artenbestand bewirken - verhinderten Rückschlüsse auf die Dünnsäure-Verklappung.
Professor Reise, der die Überwachung 1985 übernahm, kam auf die Idee, ein Vergleichsgebiet zu Rate zu ziehen. Anfangs ebenfalls ohne Erfolg: Wie gehabt holte er sich mit Hilfe eines Spezialgreifers ausschließlich Bodenproben, um die im Boden existierende Fauna zu erfassen; doch diese Organismen können offenbar durch ihre im Plankton lebenden Larven („mobiles Jugendstadium“) immer wieder neu einwandern. Die Meeresbiologen beschritten deshalb auf ihrer Tour vor zwei Wochen einen anderen Weg: Sie setzten engmaschige Netze ein und fischten die auf der Oberfläche des Meeresbodens kreuchenden Organismen ab. Das Hauptaugenmerk galt den Krebsen, „die weglaufen können, wenn ihnen das Umweltmilieu nicht bekommt“. Nun waren die Auswirkungen der Dünnsäure offensichtlich.
Eine sinnvolle Versuchsanordnung allein reicht allerdings nicht aus: Vielfältige Steuergrößen spielen in einem derart komplexen Ökosystem wie der Nordsee eine Rolle, die Randbedingungen lassen sich nie konstant halten. Ein Verklappungs-Effekt geht da leicht unter - womöglich gelang das Aufspüren der Verklappungs-schädigungen nur aufgrund des in diesem Juli besonders ruhigen Wetters. Professor Reise: „Das Gebiet ist extra als Verklappungsareal ausgesucht worden. Wir haben hier eine große Wassertiefe und eine starke Strömung, so daß sich die Schadstoffe innerhalb kurzer Zeit über ein weites Gebiet verteilen. So geht man sicher, daß Biologen ein Nachweis von auftretenden Lokalschädigungen kaum führen können.
Wenn das „Verklappen und Verbrennen von Abfällen umgehend eingestellt“ würde - wie es die nordfriesischen Kurdirektoren und Umweltschutzverbände von der Bundesregierung fordern, wäre der Artenschwund in der Verklappungszone vermutlich umkehrbar.
„Die Nordsee gleichzeitig als Müllkippe und Erholungsgebiet - das paßt nicht zusammen“, meint Porfessor Reise. Mit dieser Ansicht steht er nicht allein.
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