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■ Krisen, Transformationen und die Frage der LegalitätNeuland unterm Pflug – oder: Rußland ist in guter Verfassung

Der 4. Oktober war ein kathartischer Moment für Rußland. Unter Kanonenschlägen verabschiedete es sich aus seiner Vergangenheit, die unter den Vorzeichen von Messianismus und Heilsutopie dem Volk seit Jahrhunderten nichts als Leid eingebracht hatte. Die Meuterer im Weißen Haus wollten zurück zu dieser Tradition. Ein Erfolg ihrer Sache hätte nicht nur die Russen, sondern die ganze Welt erneut das Zittern gelehrt.

Die Entscheidung stand auf Leben oder Tod. Zeit für diskursive Erwägungen blieb nicht. Auch wenn man es im Westen lieber gesehen hätte, die Opponenten wären kommunikativ miteinander verfahren. Dafür gab es schon lange keine Grundlage mehr. Denn den Dialog hatte die Legislative längst aufgekündigt, seit mindestens einem dreiviertel Jahr. Man war in einen Stellungskrieg verfallen. Er drohte die Gesellschaft endgültig in die Regression zu treiben. Politische Apathie hatte sich schon allseits breitgemacht.

Zugegeben: Der Kampf zwischen Jelzin und seinen Opponenten im Parlament war ungleich. Ungleich nicht, weil der Präsident am längeren und stärkeren Hebel sitzt. Ungleich, weil außer Jelzin keiner auf Unterstützung aus der Bevölkerung verweisen konnte. Die sogenannte Opposition schmückte sich mit dem Attribut der legislativen Gewalt. Bis zum letzten Moment bezog sie daraus ihre Legitimation – vornehmlich gegenüber der Weltöffentlichkeit. Doch wen vertrat sie? Wo war ihre Klientel, als sie zum Generalstreik rief? Die Regionen instruierte, Moskau den Energiehahn zuzudrehen, und zum Sturm auf den Kreml blies? Außer ein paar tausend Deklassierten – die es übrigens schon zu Sowjetzeiten gab – und einem Söldnerhaufen, der in Sachen ethnischer Luntenlegung von postsowjetischem Krisenherd zu Krisenherd reist, fehlte ihr jeglicher Rückhalt.

In Krisen und Verwerfungen gesellschaftlicher Transformationsprozesse nützt das Festhalten an legalistischen Positionen nur wenig. Es setzt sich sogar einem Ideologieverdacht aus. Erinnern wir uns: Die parlamentarische Opposition zu Jelzin in der zentristischen „Bürgerunion“ war noch zur Jahreswende ein mächtiger Faktor. Wo ist sie nach der Radikalisierung wichtiger Führungsfiguren abgeblieben? Sie stand vor der gleichen Entscheidung wie Jelzin: Trotz politischer Differenzen über den Gang der Reformen mußte sie für oder gegen eine offene Gesellschaft Stellung beziehen. Nicht weniger und nichts anderes wurde am 4. Oktober entschieden. Die Partei, die diesen Block repräsentierte, unterlag der gleichen Zerreißprobe. Auch sie spaltete sich in einen schroff nationalistisch autoritären und einen Reformflügel. Selbst die Garde der „roten Direktoren“ der Staatsbetriebe, die einen einflußreichen Faktor innerhalb der „Bürgerunion“ darstellten, hat sich im Zuge der Reformen des vergangenen Jahres differenziert. Sie ließ sich nicht mehr als monolithische Phalanx in die Schlacht führen.

Erst die Betrachtung der soziopolitischen (wohlgemerkt noch nicht sozialökonomischen) Ausdifferenzierung der russischen Gesellschaft gestattet eine Analyse der jüngsten Ereignisse. Abgesehen von der fragwürdigen Legitimation eines Parlaments, das unter kommunistischen – wenn auch etwas aufgelockerten Bedingungen – gewählt worden ist, muß sich ein Organ „kollektiver Vernunft“, gerät es gegenüber gesellschaftlichen Entwicklungen ins Hintertreffen, doch zumindest die Bereitschaft zur Selbstüberprüfung abringen lassen. Statt dessen simulierte es eine Realität, die seinem Interesse entsprach. Das Parlament – auch nach dem Vertrauensplebiszit im April – weigerte sich, das Außen anzuerkennen. Nie stand die Auflösung des Parlaments von oben ernsthaft zur Debatte. Der Volksdeputiertenkongreß sollte eine neue Verfassung auf den Weg bringen, die die Überhänge der Einparteienherrschaft beseitigte. Somit das tun, was die gesellschaftliche Lage erforderte. Die fehlende Trennung in exekutive und legislative Kompetenzen verschärfte den Dualismus. Doch gerade dieses totalitäre Delikt hütete sie als ihr wichtigstes Pfand.

Um die Lage zu bereinigen, sich vom Nimbus interessenegoistischen Attentismus zu befreien, hätte sich die Legislative selbst Neuwahlen stellen können. Auf juristischem oder institutionellem Weg hätte man ihnen keine Steine in den Weg geworfen. Die Wähler hätten höchstens ein unglimpfliches Urteil gefällt. Welche parlamentarische Demokratie würde sich mit dem Argument abfinden, die Legislaturperiode sei noch nicht zu Ende, um ihre Abgeordneten zu retten, nachdem man sie ihres Anachronismus, ihrer Unproduktivität und nicht einmal vorhandenen Repräsentativität überführt hat? Immerhin hatte Moskau während ihres Wirkens schon einen Putsch hinter sich gebracht!

In Umbruchsituationen stellt sich die Frage nach Legitimität und Legitimation anders. Gilt es da nicht nach Interimslösungen und Brücken zu suchen, die die Voraussetzungen von Legitimität annähernd gewährleisten? Präsidentenwahlen und Plebiszite müssen dazugehören – so gefährlich sie sein mögen.

Wer würde heute diejenigen eines Verfassungsbruches in Deutschland zeihen, die der legalen Machtergreifung Hitlers entgegengetreten wären? Sie wären längst Mythos. Und in Rußland? Man verzeiht es Jelzin nicht, daß er einem Mythos ein Ende macht. Dem Mythos der Kollektivität. Statt dessen erwacht das alte – ebenfalls mit Rußland verknüpfte – Vorurteil des Hangs zur Autokratie. Doch noch viel schwerer wiegt, daß man dem Großteil der Bevölkerung nicht zutraut, eine richtige Entscheidung für sich treffen zu können. Denn es waren die couragierten Menschen, die am 4. Oktober eine Lösung erzwangen. Erst da ergriff die Armee Partei.

Eine Argumentation, die in der Auflösung des Parlaments einen „entmutigenden Sieg“ wittert und damit Diktatur meint, hält der Realität nicht stand. Aus der Position einer gereiften Demokratie ließen sich derartige Urteile fällen. Doch Rußland ist noch keine Demokratie, Jelzin auch kein Musterdemokrat. Derartige Vorwürfe und Forderungen riechen nach moralischem Rigorismus, den die Ankläger meist am wenigsten erfüllen. Jelzin geht es um den Aufbau eines demokratischen Institutionenwesens. Bisher ist er der einzige, der sich darum bemüht und verdient gemacht hat. Mehr kann man von ihm nicht erwarten. Klaus-Helge Donath, Moskau

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