Krise der EU nach Nein aus Irland: Auflösen und neu gründen
Es gibt viele Varianten, Irlands Nein zu umgehen. Die beste wäre, die EU neu zu gründen.
Wieder müssen die selbsternannten Architekten des Hauses Europa, die Statiker und Bauleute ihrer Lieblingsbeschäftigung nachgehen: umbauen und laut nachdenken. Bei dem heute zu Ende gehenden Gipfel taten das Europas Regierungschefs. Der irische Regierungschef Brian Cowen bat um Geduld. EU-Kommissionspräsident José Manuel Barroso sprach sich dafür aus, erst beim nächsten Treffen im Oktober etwas vorzulegen. Dabei gäbe es kühne Pläne.
Die psychologische Variante
Vor sieben Jahren lehnten die Iren in einem Referendum den Nizza-Vertrag ab. Daraufhin wurde dem Text die Erklärung beigefügt, dass Irlands militärische Neutralität nicht in Frage stehe. An der Substanz des Vertrages änderte sich dadurch nichts. Der Nizza-Vertrag greift ebenso wenig in die außenpolitischen Entscheidungen eines Mitgliedslandes ein wie der Lissabon-Vertrag. In diesem Bereich können Beschlüsse nur einstimmig gefasst werden, die Zustimmung jeder einzelnen Regierung ist erforderlich. Dennoch klappte damals der Trick. Die inhaltsleere Zusatzerklärung sorgte dafür, dass der Nizza-Vertrag im zweiten Anlauf von der irischen Bevölkerung akzeptiert wurde.
Man könnte die Methode natürlich jetzt erneut anwenden. Auf eine Erklärung mehr oder weniger kommt es im europäischen Papierwust nicht an. Doch mehrere Regierungschefs haben bereits richtig erkannt, dass es undemokratisch ist, ein Volk so lange abstimmen zu lassen, bis es die erwünschte Entscheidung trifft. Zudem würde der Lissabon-Vertrag dadurch weiter zerredet und verzettelt. Schon jetzt trägt er schwer an seinem Image, unlesbar und nur der zweitbeste Kompromiss zu sein. Tricksereien und juristische Spiegelfechtereien würden ihm weiter zusetzen.
Die polnische Variante
Mit dem Kampfschrei "Nizza oder Tod" ging die polnische Regierung im Dezember 2002 in die letzte Runde ihrer Beitrittsverhandlungen. Ihr Argument: Der Vertrag von Nizza habe keine Chance gehabt, sich zu bewähren. Kaum beschlossen, sei er schon wieder verworfen worden. Die geplante Europäische Verfassung mache aus einem losen Staatenverbund einen europäischen Bundesstaat, dem die Hauptstädte noch mehr Souveränitätsrechte übertragen müssten. Moskau, die gefürchtete Zentrale des Warschauer Paktes, werde nun durch den Moloch Brüssel ersetzt.
Seither sind weitere fünf Jahre vergangen, und der Vertrag von Nizza hatte Gelegenheit, seine Praxistauglichkeit zu beweisen. Er sorgte dafür, dass die Union aus mittlerweile 27 Mitgliedern entscheidungsunfähig wurde. In Warschau wurde eine europafreundliche Regierung ins Amt gewählt. Sowohl der Sejm als auch der Senat stimmten Anfang April mit überwältigender Mehrheit für die Miniverfassung, den neuen Lissaboner Vertrag. Doch der Nizza-Vertrag hat immer noch viele Fans. In Irland warben die Gegner einer Reform mit dem Argument, der Status quo sei doch prima. Parteien wie die britischen Torries, die am liebsten aus der EU eine riesige Freihandelszone mit angehängtem Militärbündnis und Kooperation bei der Terroristenbekämpfung machen würden, sehen es genauso. Die Mehrheit der Mitgliedstaaten ist anderer Meinung. Da es aber allemal leichter ist, alles beim Alten zu lassen, als einstimmig einen Neuanfang zu wagen, könnte uns der ungeliebte Nizza-Vertrag noch ein paar Jahre erhalten bleiben.
Die technokratische Variante
Beim Beitritt Kroatiens ergibt sich in Irland die nächste Gelegenheit, das Volk zu den Urnen zu rufen. Denn der Beitrittsvertrag muss von jedem Mitgliedsland abgesegnet werden. Das Motto: Wer dumm fragt, kriegt eine dumme Antwort, ließe sich dann in einem Referendum geschickt umdrehen. "Sind Sie damit einverstanden, dass Kroatien der Europäischen Union beitritt und in diesem Zusammenhang der Vertrag von Lissabon in Kraft gesetzt wird?" könnte die superschlaue Frage lauten - auf die es für jeden weltoffenen Iren nur eine Antwort gibt: Ja! Doch auch dieser Variante würde ein Beigeschmack anhaften. Zudem träte die Frage, ob Kroatien überhaupt reif ist für den EU-Beitritt und ob die EU weitere Mitglieder verkraften kann, völlig in den Hintergrund. Die Beitrittsverhandlungen müssten möglichst zügig zum Ende kommen, ohne dass beide Seiten noch Zeit hätten, das Kleingedruckte zu lesen.
Basisdemokratische Variante
Ein demokratischeres, ein bürgernäheres, ein sozialeres Europa wollten die Wähler, glaubt zum Beispiel Jürgen Habermas. Deshalb hätten sie in Frankreich, Holland und Irland dem Lissabon-Vertrag eine Absage erteilt. Dieses Europa gelte es nun neu zu gründen und dann in einem EU-weiten Referendum zur Abstimmung zu stellen.
Wer so argumentiert, nimmt nur die politischen Kräfte zur Kenntnis, die ins eigene Weltbild passen. Denn in Irland stimmten auch die Abtreibungsgegner mit nein und alle, für die Schwule und Lesben Menschen zweiter Klasse sind. In Holland war der Länderfinanzausgleich das große Thema. Holländische Steuermittel sollen nicht in die EU-Kasse fließen, um dann in Polen oder der Slowakei ausgegeben zu werden, meint die Mehrheit. Viele Polen und Briten wiederum wollen nicht mehr Bürgernähe, Demokratie und bessere Sozialstandards auf europäischer Ebene, sondern insgesamt weniger EU. Wie also sollte die Neugründung aussehen, auf die eine Mehrheit der Europäer sich verständigen könnte? Der kleinste gemeinsame Nenner läge wohl noch unterhalb des Vertrages von Nizza.
Die visionäre Variante
Das Projekt Europa hat jeden Glanz verloren. Europäische Politik ist derzeit Dauerkrisenmanagement. Es ist Zeit, ein neues Grundsatzbekenntnis zur europäischen Idee einzufordern. Den juristischen Rahmen dafür gibt es bereits. 15 EU-Staaten haben die Europäische Verfassung akzeptiert. Niemand kann diese Regierungen daran hindern, die bestehenden EU-Verträge zu kündigen und sich unter dem Dach der Verfassung neu zu gründen. Einstimmig könnten sie beschließen, dass jedes Mitglied der alten europäischen Union einen Aufnahmeantrag in den neuen Europäischen Bund stellen kann. Länder wie Irland, Holland und Frankreich müssten ihren Wählern die einfache Frage stellen: Sind Sie dafür, dass unser Land in den Europäischen Bund eintritt?
Das Risiko, ein solches Referendum zu verlieren, wäre denkbar gering. Dennoch werden die 15 Staaten trotz flammender Bekenntnisse zur Europäischen Idee diesen Weg nicht gehen. Das politische Risiko ist ihnen zu hoch. Die Frage ist allerdings, ob das Risiko beim "Weiter so" nicht viel höher ist.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
FDP stellt Wahlkampf Kampagne vor
Lindner ist das Gesicht des fulminanten Scheiterns
Partei stellt Wahlprogramm vor
Linke will Lebenshaltungskosten für viele senken
Paragraf 218 im Rechtsausschuss
CDU gegen Selbstbestimmung von Frauen
Wahlkampf-Kampagne der FDP
Liberale sind nicht zu bremsen
Greenpeace-Vorschlag
Milliardärssteuer für den Klimaschutz
Katja Wolf über die Brombeer-Koalition
„Ich musste mich nicht gegen Sahra Wagenknecht durchsetzen“