■ Krimis: Urlaubsphobie
Schon seit fünf Jahren fährt Heinrich K. nicht mehr in den Urlaub. Dabei verdient er gut, hat eine Freundin, die gerne reist, und sieht am liebsten Filme über andere Kulturen. Aber er wagt sich nur ungern selbst hinaus in die Fremde. Damals in Südfrankreich fing es an. Er fürchtete sich urplötzlich vor dem Straßenhändler, der ihn am Ärmel zupfte, fühlte sich im Restaurant ständig betrogen, traute den Zimmermädchen im Hotel nicht über den Weg und vermied die „direkte“ Begegnung mit – wie er sie nennt – dunklen Typen. Gar nicht so leicht im Süden. Jede Ausfahrt, jede Besichtigung strapazierte seine Nerven. Dabei war eigentlich nichts Besonderes vorgefallen, außer daß ihm sein geliebtes multifunktionales Schweizer Taschenmesser abhanden gekommen war. Er hatte den Wäscheboy im Verdacht, war sich aber nicht ganz sicher. Vielleicht war es ja auch beim Klettern auf den Felsen am Strand aus der Tasche gefallen. Jedenfalls fing er damals an, Verdachtsmomente allüberall zu suchen, verschwörerische Blicke zu orten und Bedrohungen wahrzunehmen, von denen er früher nicht einmal geträumt hatte. Sein fünftägiger Resturlaub wurde der reinste Alptraum. Dieses Abgleiten auf die dunkelsten Seiten der schönen Urlaubszeit beflügelte seine Phantasie so nachhaltig, daß er – endlich zu Hause – die ausgefallensten Gefahren an europäischen Stränden, Straßen und Pensionen weitersponn. Schillernde und bedrohliche Geschichten, die den Adrenalinspiegel jedes Urlaubers erhöhen. Von Leuten, die geneppt und aufs Kreuz gelegt wurden. Wie es sich anfühlt, wenn man plötzlich ein Messer an der Kehle spürt. Wie es ist, wenn einen das schönste Mädchen der Welt um seine ganze Barschaft erleichtert. Oder wie man im Kugelhagel um das nackte Leben rennt. Und so mancher seiner Freunde und Bekannten stornierte aufgrund seiner Erzählungen die erst jüngst gebuchte Urlaubsreise in den fremden Süden für Wanderferien im Schwarzwald oder Reiten in der Lüneburger Heide.
Akribisch sammelt Heinrich K. alle Zeitungsnotizen, die im entferntesten mit Gefahren im Urlaub zu tun haben. Ein beachtlicher Fundus. Und so therapiert er seine Urlaubsphobie mit immer neuen Horrorstories aus den Ferien. Beim Erzählen blüht er völlig auf. Jüngst fiel ihm ein kleines Büchlein mit dem vielsagenden Titel „Splitternackt und ohne Geld“ in die Hand. Eine Sammlung wahrheitsgetreuer Urlaubskrimis. Nun fühlt er sich mit seinen Ängsten voll bestätigt. Und geht gänzlich auf in seinen schwarzen Erlebniswelten von der Couch. Edith Kresta
Robert Sauter: „Splitternackt und ohne Geld – Urlaubskrimis, die das Leben schrieb“, C.H. Beck'sche Verlagsbuchhandlung, München 1994, 14,80 DM.
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