: Krieg oder Frieden
VON JOHANNES GERNERT
In Berlin-Reinickendorf schleicht ein Mann zum Haus seines Nachbarn und schmiert Hundescheiße auf dessen Fußmatte. Es gibt eine Videoaufnahme davon, der Nachbar musste schließlich ständig mit derlei rechnen. Angeblich hat der andere ihm auch schon Teile seines Außenkamins gestohlen, die Dachrinne mit einem Holzpfropfen verstopft und ins Kellerfenster gepinkelt.
In Stadtilm kettet sich ein 38 Jahre alter Mann an einen Bagger. Er übergießt das Führerhaus mit Benzin und droht, sich anzuzünden. Er will verhindern, dass eine Mauer auf seine Grundstücksgrenze gebaut wird.
In Stade versucht ein Rentner seinen Nachbarn mit Salzsäure zu verätzen und anschließend mit einer Schrotflinte zu erschießen. Es geht unter anderem um die Entsorgung von Abfällen. Der Streit befindet sich zu diesem Zeitpunkt im 15. Jahr.
Vor deutschen Gerichten landen jährlich 500.000 Nachbarschaftsscharmützel, schätzt der Mieterbund. Selten rechtfertigt der banale Anlass den Aufwand, mit dem viele diese Zaunkämpfe betreiben. Nach einem Prozess kehrt an der Reihenhausgrenze oder im Mietshausflur aber keineswegs Ruhe ein. Eher schon löst ein anderes Verfahren den Konflikt dauerhaft: Mediation. Vermittler bringen zerstrittene Anwohner an einen Tisch, im Idealfall lange bevor jemand ein Rinderbein, eine dreizackige Forke und ein Schild mit der Aufschrift „Hier ruht der Teufel“ in ein Familiengrab steckt, weil die Nachbarn ihn nicht zur Silberhochzeit eingeladen haben. Als zivile Blauhelme verhindern Mediatoren den Ausbruch von Kleinkriegen. Sie befrieden das verminte Grenzgebiet am Gartenzaun.
Am runden Tisch im Büro des Münchner Diplommediators Erhard Neumann sitzen häufig Menschen am Rande eines Nervenzusammenbruchs. Sie haben sich so sehr in ihren Streit hineingesteigert, dass einer den anderen angegriffen hat. Mit Schimpfworten, mit Fäusten oder mit der Schneeschaufel. „Ganz oft geht es um Körperverletzung“, sagt Neumann. Die Sache landet vor Gericht. Aber der Staatsanwalt bietet statt eines Prozesses eine Mediation an. Dann landen sie bei Neumann.
Da streitet in einem Mehrfamilienhaus das alte Ehepaar mit der jungen Familie. Die Alten ärgert das Kindergetrampel von oben. Im Treppenhaus grüßt man sich nicht mehr, sondern rempelt sich an. Im Keller erschreckt man sich gegenseitig im Dunkeln. Der Rentner zückt sein Asthmaspray und besprüht den dreifachen Vater. „Oft ist es ein Pingpongspiel“, sagt Neumann. „Einer macht was, der andere setzt eins drauf.“
Manchmal so lange, bis es nicht nur pingt und pongt, sondern richtig rumst. Der Konfliktforscher Friedrich Glasl unterscheidet neun Eskalationsstufen. Immer wieder befassen sich deutsche Gerichte mit Auseinandersetzungen der Stufe neun: totale Vernichtung und Selbstvernichtung. Dann kommen Äxte, Armbrüste, Pistolen und Säure ins Spiel.
Neumanns Fälle reichen bis Stufe acht: gezielte Angriffe auf das Nervensystem des Gegners. Es stehe auch schon mal einer „mit einer Knarre hinter der Hecke“, sagt Neumann. Geschossen hat von seinen Klienten aber noch keiner. Ist es erst einmal so weit gekommen, muss ein Richter her, kein Mediator. Wegen des öffentlichen Interesses an der Sache. So schreibt es das Gesetz vor.
Wenn zwei Streitende bei ihm sitzen, hört Neumann ihnen so lange zu, bis er zu wissen glaubt, was sie wirklich wütend macht. „Erhellung der Hintergründe“ heißt die Phase der Mediation in Lehrbüchern. Wenn die Motive klar sind, ist es leichter, am Ende gemeinsam eine Vereinbarung festzuhalten.
Nach demselben Muster vermitteln auch ehrenamtliche Mediatoren. Anders als der Profi Neumann bekommen sie ihre Fälle nicht vom Staatsanwalt zugewiesen, sondern vom Stadtteilbüro. Die Eskalationsstufen sind hier niedriger, meist gibt es noch keine Anzeige. Die Nachbarschaftsmediation stammt aus den USA. Schon in den 70er-Jahren wurden dort Freiwillige ausgebildet, in Deutschland begann das erste Projekt Mitte der 90er-Jahre in Frankfurt. Mittlerweile bilden fünf private Institute Vermittler aus, wenn in einem Viertel das Klima nicht stimmt. Und wenn öffentliches Geld für solch einen künstlichen Klimawandel da ist.
In Maintal bei Frankfurt gibt es das Geld. Deshalb lernen Brigitte, Ilse und Gertrud, wie man Nachbarn miteinander versöhnt. Bernd und Kees bringen ihnen bei, wie man das macht. Sie brauchen dafür bunte Zettel, bunte Filzstifte, zwei Stellwände, zwei Flip-Charts, etwa vierzig Reißzwecken und vierzig Stunden Zeit. Wichtig ist auch, dass sich alle duzen. Es ist Samstagvormittag. Achtzehn Frauen und zwei Männer aus den Ortsteilen Bischofsheim und Dörnigheim sitzen im Stuhlkreis im Sitzungssaal des Maintaler Rathauses. In den Vierteln brennt es sozial. Die Bewohner sind häufig arbeitslos, stammen oft aus dem Ausland und streiten nicht selten über Lärm, Mülltrennung und die Sauberkeit im Treppenhaus.
Brigitte, Ilse, Gertrud und die anderen sollen künftig dafür sorgen, dass sich Nachbarn nicht mit Schnecken bewerfen, mit Spielzeugpistolen erschrecken oder mit Armbrüsten erschießen. Das ist alles schon vorgekommen, wenn auch nicht in Bischofsheim oder Dörnigheim.
Bernd und Kees erklären, was Mediatoren sind: Mediatoren sind Hebammen. Sie bringen einen Kompromiss zur Welt. Mediatoren sind allparteilich, sie sind für alle am Streit Beteiligten da.
Der erste Konfliktfall wird noch vor der Mittagspause besprochen. Familie Züchter hat ohne zu fragen die Hecke der Familie Gärtner gestutzt und danach auch noch gut hörbar über die anderen gelästert. Brigitte, Gerti und Ulli spielen die Gärtners; Ilse, Ruth und Barbara sind die Züchters. Sie fühlen sich in die jeweilige Streitpartei hinein.
Gerti schreibt auf ihr Arbeitsblatt: „Ohne Vorwarnung und eigenwillig gehandelt.“ Und: „Rachegelüste – wegen Lügen.“ Brigitte erläutert, dass es ein Zeichen von Unsicherheit ist, wenn die Züchters Lügen über die Gärtners verbreiten, schließlich hätten sie genau gewusst, dass es falsch war, die Hecke zu beschneiden.
Die Mediatoren trainieren sich natürliche Reflexe ab. Sie lernen, einen erwachsenen Menschen ernst zu nehmen, auch wenn der tobt wie ein wütendes Kind. Sie lernen, Zweifel zu unterdrücken. Bei den dreistesten Lügen müssen sie freundlich lächeln wie die Stewardess bei der Getränkebestellung. Nur so können sie das Vertrauen der zeitweilig Unzurechnungsfähigen gewinnen. Sie üben dafür aktives Zuhören, kontrollierten Dialog und Deeskalation. Nicht sagen: „Das Scheißschwein hat sein Auto schon wieder vor meiner Tür geparkt“, erklärt Kees. „Die Wertung da rausnehmen“, ergänzt jemand.
Richter denken in Paragrafen des Nachbarrechtsgesetzes und fragen danach, wer schuld ist. Mediatoren denken in Eisbergen. Sie suchen nach dem, was unter der Wasseroberfläche liegt. Sie vermuten dort Frust, Angst oder Panik – nicht ungestutzte Hecken und falsch entsorgten Müll. Richter müssen verurteilen. Mediatoren sollen verstehen.
Nach der Ausbildung werden die ehrenamtlichen Konfliktvermittler auf ihren ersten Fall warten. Manchmal eine ganze Weile. „Die im Vorfeld häufig geäußerte Befürchtung, Ehrenamtliche würden unzumutbar ausgebeutet, tritt nicht ein“, heißt es freundlich umschreibend in einer Fachzeitschrift. Denn das gut gemeinte Streitschlichten hat ein Akzeptanzproblem. In den Niederlanden wurden viel früher als in Deutschland Mediationsprojekte aufgebaut. Nur noch ein einziges ist heute übrig. In Österreich gibt es einen Verein eigens für Nachbarschaftsmediationen. Pro Jahr bearbeiten dessen Vermittler gerade einmal zwanzig Fälle. Nicht immer nämlich wünschen sich streitende Nachbarn einen Mediator. Viele wollen nicht so sehr Ruhe, sondern vor allem Recht haben. Recht allerdings sprechen Richter, nicht Mediatoren.
Auch zum Münchner Mediator Neumann kommen die Leute nur, weil sie sich damit einen Strafprozess ersparen können. Der Sozialpädagoge beschränkt sich nicht aufs Mal-drüber-Reden. In den Momenten, in denen viele schon ausrasten, „wenn man bloß den Namen des anderen erwähnt“, tut Neumann etwas, das man ganz und gar nicht erwartet: Er macht einen Scherz. Mit strategischen Spitzen treibt er die Vermittlung voran. Provokative Therapie heißt die Methode, die auf Wahnwitz mit Pointen antwortet.
Hin und wieder entspannt Neumann die Situation gern mit dem Spruch von dem Hund und den Eiern. Da sitzt also ein verbissener Alter und beschwert sich über seinen Nachbarn: Warum macht der das bloß? Das ist das Stichwort. „Darüber haben sich schon viele den Kopf zerbrochen“, sagt Neumann. „Forscher in Amerika fragen sich auch: Warum schleckt der Hund seine Eier?“ Schweigen. „Sie haben eine Antwort darauf gefunden“, fährt er dann fort. „Weil er es kann.“
Um manche Klienten von ihren Hassfantasien und Zwängen zu befreien, versucht er ihnen deutlich zu machen, wie absurd sie sich verhalten. Dann überzeichnet er, macht sich gar lustig über sie.
Schließt jemand jeden Abend um acht die Haustür ab und die anderen Mieter ärgern sich, weil sie wieder aufschließen müssen, hält Neumann einen Vortrag über die Vorzüge geschlossener Türen. Er regt an, die Tür auch tagsüber abzuschließen. Möglicherweise ein zweites Schloss anzubringen. Er steigert das so lange zu einer Stegreifglosse, bis der Schließfetischist versteht und über sich selbst lacht. Meist funktioniert das.
Am wichtigsten, sagt Neumann, ist es, am Anfang einen guten Draht aufzubauen. „Wenn ich weiß, dass der Draht gut ist, kann ich mir fast alles erlauben.“ Sein Humor, sagt er, hilft ihm auch, das besonders Groteske zu verarbeiten. Manche Anwohnergefechte erinnern ihn an Sketche von Loriot oder Gerhard Polt. Er würde dann gerne zum Lachen vor die Tür gehen. Einmal hat ein Mietshausbewohner einem anderen vorgeworfen, er würde auf dem Balkon wie Tarzan schreien, sich dabei auf die Brust schlagen und zu ihm herunterfurzen. So witzig das klingt, den Streitenden ist es bitterernst.