Kreuzbergbesuch : Ein Staatsmann auf Werbefahrt
Als erster türkischer Staatschef stattete Recep Tayyip Erdogan gestern Kreuzberg einen Besuch ab. Während deutsche Beobachter dies gerne als Anerkennung und Rückenstärkung der türkischen Migranten gewertet sehen möchten, erwarteten türkische Berliner von seinem Besuch ganz andere Signale. Ihnen – und natürlich den Veranstaltern von Tüsiad, dem Zusammenschluss türkischer Unternehmer und der Europäischen Akademie, ging es mit dem gestrigen Besuchsarrangement in erster Linie um eine Werbeveranstaltung für den erhofften EU-Beitritt der Türkei. Dazu bildete das Paul-Lincke-Ufer die ideale Kulisse. Hier konnte demonstriert werden, wie sich liberales deutsches Bürgertum mit konservativer türkischer Politik trifft. Hier konnte wie beiläufig gezeigt werden, wie weltoffen die Türkei ist: Ein Islamist trifft einen homosexuellen Bürgermeister und andere illustre Bürger dieser Stadt. Die ist dazu der richtige Ort, denn von keinem Land verhofft sich Ankara mehr Unterstützung für sein Ansinnen als von der Bundesrepublik.
KOMMENTAR von ADRIENNE WOLTERSDORF
Dass die Integrationsfrage bei diesem Deutschlandbesuch Erdogans nur gestreift wurde, mag manche überraschen, doch wäre der Staatspräsident tatsächlich der falsche Mann, die Sache der Migranten hier zu vertreten. Sein Kommentar zum Nein von Bundespräsident Johannes Rau zum Koptuch im Staatsdienst war dennoch nicht überhörbar: Erdogan forderte am Paul-Lincke-Ufer schlicht Gleichbehandlung aller Menschen – und damit indirekt Toleranz für seine religiösen Landsleute. Wer erwartete, dass der Besuch des Ministerpräsidenten in Kreuzberg diese hitzige Debatte – und damit die Integrationsdiskussion schlechthin – beenden würde, liegt falsch. Denn sie ist und bleibt eine Hausaufgabe der deutschen Gesellschaft. Erdogan, sonst ein Populist, der kein Bad in der Menge scheut, plauderte bewusst nicht mit den türkischen Gemüsehändlern oder den Einkäuferinnen auf dem Maybach-Markt. Sein Ziel ist die Aufnahme in die EU, und die wird nun mal nicht in Kreuzberg entschieden, sondern in Brüssel.
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