piwik no script img

Kreuzberg kochtVernetzung geht durch den Magen

Es ist nicht nur ein Kochbuch - auch wenn es Rezepte enthält. Der Berliner Büchertisch präsentiert darin das Spektrum sozialer und politischer Initiativen

Mut zur Eigeninitiative Bild: DPA

Es war ein Kraftakt. Doch zwei Jahre Kleinstarbeit für das erste große Buchprojekt des Berliner Büchertischs haben sich gelohnt: "Kreuzberg kocht" ist kein normales Kochbuch. "Es geht um das Rezept hinter dem Rezept", sagt Herausgeberin und Büchertisch-Gründerin Ana Lichtwer. Sie meint die Einsicht in die alltäglichen Probleme und (Über-)Lebensstrategien von 55 Kreuzberger Initiativen, die in Interviews vorgestellt werden.

Jeweils drei Seiten des kleinen Buches nehmen die Kurzporträts ein, die das Projektteam der sozial orientierten Buchhandlung zusammengetragen hat, weitere drei Seiten zeigen die Menschen hinter den Initiativen bei der Zubereitung ihres Lieblingsgerichts. Die 250 Aufnahmen der Fotografin Anna Schroll sind präzise auf die Personen und ihre Aussagen abgestimmt. Doch nicht nur das macht die Seiten zu mehr als einer Anleitung für Rote-Bete-Carpaccio oder Wirsingroulade. Geschickt verknüpft das Team Geschichten von "Vorreitern" mit "Vorspeisen" oder von "Hauptsachen" mit "Hauptgerichten", um die Fragmente der Stadtteilschau zu verbinden. "Kochen bot sich als Rahmen an, weil diese gemeinsame Aktivität auch den solidarischen Zusammenschluss des Stadtteils verkörpert", sagt Lichtwer. "Außerdem erhält man intime Einblicke in das Leben der Leute, wenn man ihnen beim Kochen zusieht - man gelangt auf eine andere Ebene."

Weil die Interviewerinnen Anna Schroll und Cornelia Temesvári flexibel auf ihre Gesprächspartner eingehen, erreicht fast jedes der Gespräche diese "andere Ebene". Nicht immer hat auch der Leser etwas davon: Manche Interviewfragmente kommen sehr insiderhaft daher. Etwa bei der Vorstellung von "Typisch Deutsch e. V.": Der 2010 gegründete Verein bietet Raum für 15 Nationalitäten und sieben Religionen - was er eigentlich macht, wird lange nicht klar. Auf die Schulbesuche, die laut der Vorsitzenden Sezen Tatlici-Ince momentan den Fokus der Vereinsarbeit bilden, kommt Interviewerin Temesvári erst spät zu sprechen. Und dass es bei diesen Schulstunden weniger um Neudefinitionen von "Deutschsein" als um Themen wie Umweltschutz oder Ehrenamt geht, wird gar nicht klar. Stattdessen scheint Temesvári nicht richtig von der Frage nach Migration und Identität wegzukommen.

Trotzdem: Der Leser erfährt durch die Gespräche eine Menge über das alternative Kreuzberg, die Projekte und deren Vernetzung. Temesvári lässt sich etwa von Malte Zacharias, dem Leiter des Gartenstudios in der Naunynstraße, detailliert beschreiben, wie kleine und große Köche in seinen Kochkursen Kartoffeln in Gnocchi verwandeln. Darüber dringt die Interviewerin zur Entstehung des "Bermudadreiecks" vor - dem Gärtner- und Kochkunst-Verbund, den das Gartenstudio, die Prinzessinnengärten und das Bethanien zwischen Moritzplatz und Mariannenplatz bilden. "Auf jeden Fall ist diese Kooperation wichtig, weil sie nicht unter wirtschaftlichem Druck steht", meint Zacharias. Und schon ist das Gespräch wie von selbst beim Kernanliegen des Büchertischs gelandet: "Gelebte Alternativen" präsentieren, um Mut zur Eigeninitiative zu machen. Denn auch wenn Ana Lichtwer sagt, sie habe bewusst nur Projekte ausgewählt, die sie positiv fand - "Kreuzberg kocht" bildet auch die unschönen Seiten des Stadtteillebens ab.

Momente des Scheiterns und Hindernisse werden etwa spürbar, wenn Cornelia Temesvári dem Mitgründer der Kreuzberger Initiative gegen Antisemitismus, Aycan Demirel, bei der Zubereitung von türkischer Knoblauchwurst mit Spiegelei über die Schulter blickt. Ein "Unangepasster" kocht "Unkompliziertes" und spricht dabei über politische Zusammenhänge: die Tabuisierung von migrantischem Antisemitismus. Seit 2003 bemüht sich die Initiative um Jugendliche, die in antisemitische Strömungen abzurutschen drohen. Unterstützung gab es dafür lange nicht. "Wir sind keine Migrantenorganisation", sagt Demirel. "Unser Ziel ist, Methoden aufzuzeigen, die überall zum Einsatz kommen und für alle, unabhängig von Herkunft und Religion, von Interesse sein können."

Genau das ist letztlich das Verdienst von "Kreuzberg kocht". Dem Projekt gelingt die schwierige Balance zwischen verschiedenen Themen, die den Stadtteil prägen - ohne zu sehr auf Öko oder Multikulti fixiert zu sein. Neben den Rezepten finden sich Kontaktadressen der vorgestellten Projekte. Während also viel Raum für neue Kooperationen in Kreuzberg ist, hat Büchertisch-Chefin Ana Lichtwer schon die nächsten Projekte vor Augen: Ihr schweben Ausgaben für andere Stadtteile vor, etwa Friedrichshain oder Neukölln: "Ich habe längst noch nicht alles entdeckt, was diese Stadt zu bieten hat."

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen

1 Kommentar

 / 
  • ML
    Martina Lippmann

    Ich hätte mir etwas mehr Auskunft über die Rezepte gewünscht um das Buch zu kaufen, wie die Leute in Kreuzberg mit ihrem Budget über die Runden kommen, was es zu den Feiertagen gibt, welchen Wein von Aldi man dazu trinkt, sowas z.B.

    Die Kochshows finde ich sehr interessant im Fernsehen aber sie zeigen den Doofen auch nicht wie man Kartoffelsalat mit welchen Kartoffeln macht, festkochenden und wie man das Schnitzel paniert, damit Weihnachten was auf dem Tisch steht.

    Die Mutter meiner Kinder muß sich also auf ihren Instinkt verlassen. Uähh