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KrankenhausarchivDie gesammelten Warzen der Charité

Im Archiv der Charité lagern 5 Millionen Krankenakten. Auch Gewebeproben längst geheilter Patienten werden hier 30 Jahre lang aufbewahrt.

Der Patient kommt in den OP, seine Akten ins Archiv Bild: DPA

An Krankheiten erinnert sich niemand gern. Wer seiner Ärztin im Detail Auskunft darüber geben muss, wo genau es juckt, zieht und schmerzt, wer sich röntgen lässt oder in den Computertomographen schlüpft und schließlich gar unters Messer kommt, der will sich hinterher nicht auch noch an alle Einzelheiten des Krankheitsverlaufs erinnern. Doch wenn der Patient geheilt das Krankenhaus verlässt, lebt sein Leiden im Geheimen fort.

Kein Detail gerät in Vergessenheit, keine noch so verschwommene Aufnahme seines Knochengerüsts wandert in den Abfall: Auf einem genormten Pflegeformular dokumentiert und mit einem Code aus bunten Aufklebern versehen, verwandeln sich seine Beschwerden in ein Krankenblatt und beginnen ihre Reise an einen sehr deutschen Ort: die Welt des Krankenblattarchivs.

Um ihnen zu folgen, zum Beispiel an der Berliner Uniklinik Charité, müssen sich Besucher strengen Sicherheitsvorkehrungen unterwerfen - so viele persönliche Daten könnten Begehrlichkeiten wecken. Wie in einem Agententhriller wird ein Treffpunkt am Virchow-Klinikum im Wedding vereinbart. Dort warten drei Charité-Mitarbeiter. Sie wollen nicht namentlich genannt werden. Auch die genaue Lage des Archivs muss geheim bleiben.

Die Mitarbeiter fahren den Besucher zu einem abgelegenen Industriegebiet in Spandau, Zutritt bekommt man nur mit einer entsprechenden Chipkarte. Vor einer schmucklosen, modernen Fabrikhalle ist schließlich Endstation - obwohl kein Schild darauf hinweist, dass hier das Archiv der größten Universitätsklinik Europas versteckt liegt.

Der Besucher muss seinen Personalausweis vorzeigen, Name und Ankunftszeit werden in einer Liste archiviert. Erst dann darf er die gewaltige Anlage betreten, die jede Universitätsbibliothek in den Schatten stellt: Die gegenüberliegende Wand ist kaum zu sehen, so dicht drängen sich die Regalreihen in der mit 5.000 Quadratmetern beinahe fußballfeldgroßen Halle aneinander. Zehn Etagen hat jedes Regal, Akten über Akten stapeln sich darin, bis sie in viereinhalb Meter Höhe an die Sprinkleranlage stoßen.

Mehr als fünf Millionen Krankenblätter sind es insgesamt, sorgsam in braune Umschläge verpackt und in Hängeregistern sortiert. Selbst in den Gängen zwischen den Regalen ist kein Platz, tausende Dokumente warten hier in Kartons verpackt auf die Reise an einen neuen Standort. Und ständig liefert die riesige Charité Nachschub: "Jedes Jahr kommen etwa 125.000 stationäre und 600.000 ambulante Fälle hinzu", sagt Ulrich Frei, ärztlicher Direktor der Charité und damit Herr über das Reich der Krankenblätter.

Für jeden Patienten müssen die Ärzte auf sechs Blättern Vorgeschichte, Befund, Behandlung, Pflege und Verlauf der Krankheit festhalten und die verabreichten Medikamente notieren. So schreibt es die Berliner Krankenhausverordnung vor. "Dabei werden die Akten immer dicker, denn die Patienten werden auf mehr Risiken hin untersucht als früher", erklärt Frei. Auch neue Technologien wie die Computertomographie trügen dazu bei, dass die Datenmenge wachse. In Tempelhof richte man nun eine zweite Halle mit ähnlichen Ausmaßen ein, um der stetig wachsenden Aktenflut Herr zu werden.

30 Jahre lang muss die Klinik ihre Dokumente aufbewahren, erst dann kommen sie in den Schredder. "Zudem lagern in unserem Archiv nicht nur unsere Akten, sondern sämtliche Bestände von über 20 Kliniken, die inzwischen alle zur Charité gehören", sagt Charité-Direktor Frei.

Und jedes dieser Krankenhäuser hatte ein eigenes Archivierungssystem. Da ist es nicht leicht, den Überblick zu behalten. "Chaotische Lagerhaltung" sei daher der Fachbegriff für das Archivsystem der Charité, bei dem Dokumente nicht chronologisch, sondern nach verfügbarem Platz geordnet würden, sagt eine der sieben Angestellten der Sammlung.

Die meisten Krankenhäuser benutzen Farbcodes, um das Geburtsdatum des Patienten und den Zeitpunkt der Behandlung zu markieren. Wer zum Beispiel eine Akte aus dem Jahr 1995 sucht, muss sich durch eine Regalreihe kämpfen, aus der so viele lindgrün getupfte Zettelchen baumeln, dass sie eher einem Frühlingswald als einem Archivgestell gleicht. Weiter hinten, wo die Lagerhaltung besonders chaotisch wird, scheint es, als sei eine Karnevalsparade geradewegs durch die Halle gezogen und habe einen Jahresvorrat Konfetti verstreut. So farbenfroh getupft sind die Gänge, dass Zweifel an der Sauertöpfischkeit preußischer Bürokraten aufkommen. "Die Kombination Dunkelblau-Mintgrün-Hellgrün-Moosgrün-Himmelblau steht für das Geburtsdatum 21. August 1997", erklärt die Mitarbeiterin. Ein knallroter Aufkleber verrät das Jahr der Behandlung.

Verlässt man dagegen die Hauptgänge und dringt ins Unterholz des Blätterwaldes vor, dorthin, wo gelbliche, mit der Schreibmaschine getippte Karteikarten allmählich verwelken, herrscht plötzlich vollkommene Stille: Die dicht gedrängten papiernen Erinnerungen an vergangene Leiden schlucken jedes Geräusch, auch wenn es nur ein paar Meter weiter entsteht.

Nach hundert Metern Dickicht, etwa bei Regalreihe 50, lichtet sich unvermittelt der Blätterwald und gibt den Blick frei auf einige besonders ungewöhnliche Archivgewächse: Lichtgeschützt verpackt, ranken sich hier Röntgenfilme an den Regalreihen empor, daneben häufen sich schallplattengroße, fingerdicke optische Scheiben aus der digitalen Frühzeit, die außerhalb dieses Biotops längst ausgestorben sind. "Darauf sind Herzkatheterfilme gespeichert", erklärt die Archivarin und lacht. "Damals war das ein großer Fortschritt, heute archivieren wir die Aufnahmen auf Festplatten und brennen sie bei Bedarf auf CD."

Wie in einem richtigen Wald sind auch in der Sammlung der Charité kleine Schätze versteckt - der bizarren Sammelleidenschaft der Archivbürokratie sei Dank. In manchen Schubladen finden sich, Bernsteinen gleich, durchscheinende Paraffin-Blöckchen, in denen dunkle Partikel eingeschlossen sind: Die gesammelten Warzen und Pickel der Charité-Patienten. "Jede entnommene Gewebeprobe wird nummeriert und dann hier abgelegt", sagt die Mitarbeiterin. Wer ein Geschwür aus den 80ern noch einmal unter die Lupe nehmen möchte, wird hier also fündig.

Mit Schatzsuchern haben die Mitarbeiter allerdings nicht zu kämpfen: "Bislang sind noch nie Akten verschwunden", sagt die Archiv-Angestellte. Dazu trügen auch die strengen Sicherheitsvorkehrungen bei: Die Mitarbeiter unterlägen der ärztlichen Schweigepflicht, die Türen der Halle würden abends versiegelt, die Fenster seien stets verschlossen. Immerhin enthielten die Akten höchstprivate Informationen. "Stellen Sie sich vor, Sie sind eine bekannte Berliner Persönlichkeit, lassen eine unangenehme Krankheit behandeln, und am nächsten Tag lesen Sie Details darüber in der Zeitung", schildert die Mitarbeiterin mögliche Folgen eines Aktendiebstahls.

Einsicht in die Krankenblätter samt Begleitmaterial haben neben den betroffenen Patienten und dem behandelnden Arzt nur Wissenschaftler, Kranken- und Rentenkassen sowie die Staatsanwaltschaft. Sie müssen jedoch für jede einzelne Akte nachweisen, dass sie auf einer entsprechenden Rechtsgrundlage handeln.

"In allen anderen Fällen muss der betroffene Patient sein Einverständnis erteilen", sagt Charité-Direktor Frei. Vor allem Ärzte würden die Dokumente anfordern, um die Krankengeschichte von Patienten zu studieren, die schon einmal in der Charité behandelt wurden.

"Jeden Tag suchen wir etwa 250 Krankenblätter heraus", sagt die Angestellte des Archivs. Länger als einen Tag dauere es normalerweise nicht, bis der einstige Patient seine Akte in den Händen halte. Nach längerer Lagerung würden die braunen Umschläge jedoch immer seltener geöffnet, im dritten Jahrzehnt brauche man sie so gut wie gar nicht mehr. "Um den Platzmangel zu lindern, sollte die Archivierungsdauer auf 20 Jahre gesenkt werden", fordert daher Archiv-Chef Frei.

Die wenigsten Patienten dürften etwas dagegen haben, dass ihre Krankheitsgeschichte ein wenig früher ausradiert wird. Und Befürchtungen, Meilensteine der Medizingeschichte könnten bei der Aktenvernichtung verloren gehen, sind unbegründet: Vor jeder Rodung des Blätterwaldes wird das zuständige Archiv der Humboldt-Uni informiert. Besonders interessante Fälle finden dann dort ihren Platz - ohne Verfallsdatum.

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