Kopftuch in der Türkei: Erdogan attackiert Verfassungsrichter
Verfassungsgericht legt seine Urteilsbegründung für das Kopftuchverbot vor. Regierungschef Erdogan hält es für eine elementare Einschränkung der Freiheitsrechte.
ISTANBUL taz Mit einer massiven Urteilsschelte reagierte gestern der türkische Premier Tayyip Erdogan auf die schriftliche Begründung eines Urteils des Verfassungsgerichts gegen die Freigabe des Kopftuches an den Universitäten und im öffentlichen Dienst. Das Urteil, so Erdogan, verletze elementare Freiheitsrechte, die gesetzlich garantiert seien. Die Interpretation des Gerichts sei illegitim.
Das Verfassungsgericht hatte im Frühjahr eine mit Zweidrittelmehrheit im Parlament beschlossene Verfassungsänderung für ungültig erklärt, weil sie gegen den unabänderlichen Verfassungsgrundsatz des Laizismus verstoße.
Diese Entscheidung hat das Gericht jetzt begründet. Ebenfalls in schriftlicher Begründung legte das Gericht noch seine Entscheidung gegen ein Verbot der regierenden AKP dar. Darin hieß es, die AKP habe zwar gegen das Laizismus-Gebot verstoßen, das reiche aber nicht für ein Parteienverbot aus.
Während die Debatte um Parteienverbote mit dem Freispruch der AKP weitgehend verstummt ist, hat die schriftliche Begründung des Kopftuchurteils die Debatte neu angefacht. Sowohl die AKP als auch die rechtsradikale MHP sind dafür, das Kopftuchverbot aufzuheben.
Da der Weg einer einfachen Verfassungsänderung nun versperrt ist, diskutieren Juristen beider Parteien, ob es möglich ist, die Befugnisse des Verfassungsgerichts so einzuschränken, dass die Richter nur noch für die Überprüfung prozessualer Fragen zuständig sind.
Von dem Versprechen der AKP, die Kopftuchfrage im Rahmen einer breiten Debatte über eine neue, die Freiheitsrechte des Individuums stärker betonenden Verfassung zu lösen, hört man nichts mehr.
Angesichts der drohenden Wirtschaftskrise hat die Mehrheit der Bevölkerung sowieso andere Sorgen. Die Finanzkrise ist in den letzten Tagen auch in der Türkei voll angekommen. In dieser Woche hat die türkische Lira mehr als 30 Prozent an Wert gegenüber dem Dollar verloren.
Die AKP setzt deshalb in Sachen Kopftuch eher auf pragmatische Lösungen. Der Schlüssel ist der dem Staatschef unterstellte Aufsichtsrat für die Universitäten "YÖK". Dieses bis vor einem Jahr von strammen Kemalisten dominierte Gremium wird seit der Wahl Abdullah Güls zum Präsidenten nach und nach mit Gefolgsleuten der AKP besetzt.
Da YÖK über die Besetzung der Rektorenstellen an den Universtäten entscheidet und die Rektoren das Kopftuchverbot durchsetzen müssen, wird nun an einzelnen Universitäten ein Auge zugedrückt. Solange nur Studentinnen Kopftücher tragen, wird sich darüber kaum jemand aufregen.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Hype um Boris Pistorius
Fragwürdige Beliebtheit
Kanzlerkandidat-Debatte
In der SPD ist die Hölle los
Russischer Angriff auf die Ukraine
Tausend Tage Krieg
BSW stimmt in Sachsen für AfD-Antrag
Es wächst zusammen, was zusammengehört
Abschluss G20-Gipfel in Brasilien
Der Westen hat nicht mehr so viel zu melden
CDU-Politiker Marco Wanderwitz
Schmerzhafter Abgang eines Standhaften