■ Kommentare Mit der Armee wird die Einheit nicht aufrechterhalten: Legitimität erhöhen
Ist die Tendenz zur Abspaltung tatsächlich so stark? Und was hat man genau unter Sezessionismus zu verstehen? Wer sich die Karte auf der nebenstehenden Seite anschaut, wird wohl keinen Zweifel an der Bedeutung des Phänomens haben. Schwieriger ist die Antwort auf die zweite Frage. Nach Marxschem Vokabular wäre Sezessionismus eine „Alterskrankheit des Nationalismus“, eine spezielle Spielart mikronationalistischer Übertreibung von Exklusivität, auf der Suche nach der eigenen Identität.
Mehr noch: Der Sezessionismus ist nichts anderes als die äußerste Konsequenz der Selbstbestimmung der Völker, eine Erfindung Lenins und des damaligen US-Präsidenten Wilson, dessen Außenminister Lansing all das für Sprengstoff hielt, der die Landkarte der Welt heftig durcheinanderbringen würde. Warum sollte man den Walisern und den Schotten, den Katalanen und den Basken, den Schlesiern und den „Padaniern“ (eine geopolitische Erfindung des Liga-Nord-Führers Bossi) verweigern, was man den Deutschen zugestanden hat und was die Slowenen und Kroaten gar mit ihrem Blut erkämpft haben?
Womit wir bereits einen der Gründe für den Sezessionismus ausfindig gemacht haben: den Zusammenbruch der bipolaren Welt und des Kommunismus – zwei vormals mächtige Stabilitätsfaktoren Europas und der Welt. Das Phänomen gibt es ja weltweit, womit wir beim zweiten Grund wären: die Globalisierung. Zwischen ihr und dem Sezessionismus besteht ein Zusammenhang. Heute hat eine Stadt oder eine Region buchstäblich weltweite Interessen, und so verfolgt jede ihre spezifischen wirtschaftlichen Vorteile, ja mitunter gar eine Art Miniaußenpolitik, die nicht selten der des eigenen Staates zuwiderläuft.
Letztere These erklärt auch die besonders angsteinflößende Form des Sezessionismnus, die sich speziell in Europa ausbreitet: jener der Reichen, die keine Lust mehr haben, für ihre ärmeren Landsleute zu zahlen. Das haben wir schon in Jugoslawien gesehen, und das sehen wir nun auch in Italien. Hier wird durch die Rhetorik der „Poebenen-Republik“ ein im wesentlichen wirtschaftliches Problem in ein geopolitisches verwandelt.
In diesem Falle hilft der Ruf nach Armee und Polizei zur Aufrechterhaltung der Einheit am Ende gar nichts. Die einzige Antwort besteht darin, die Effizienz des Staates und damit seine Legitimität zu erhöhen. Nur so gibt es die Garantie, daß sich die sozialen Spannungen am Ende nicht in einen offenen Konflikt verwandeln. Lucio Caracciolo
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