Kommentar: Aufschwung braucht brotlose Künste
Die Ost-Unis sind bei den Geisteswissenschaften nur dünn besetzt. Das trägt nicht gerade zur Stärkung der Zivilgesellschaft zwischen Rügen und Zittau bei.
W elche Hochschulen Ostdeutschland für den erhofften Aufschwung brauchen würde, schien nach der Vereinigung völlig klar zu sein. Wirtschaftsnah sollten sie sein und praxisbezogen, mit einem Schwerpunkt in technischen Fächern und möglichst wenig brotlosen Künsten, für die es doch in Westdeutschland schon viel zu viele Institute gab. Am konsequentesten verfolgte Sachsen diese Politik, wo den drei Technischen Universitäten in Dresden, Chemnitz und Freiberg nur eine einzige klassische Universität in Leipzig gegenübersteht. Und, siehe da: Die Wirtschaft florierte - ganz im Gegensatz zu Mecklenburg-Vorpommern, das seine beiden Traditionsunis in Rostock und Greifswald erst mühsam amputieren musste.
Das war offenbar zu kurzfristig gedacht, wie Wissenschaftler jetzt pünktlich zum "Jahr der Geisteswissenschaften" herausgefunden haben. Weil angehende Geisteswissenschaftlerinnen zum Studium in den Westen abwandern und männliche Technikstudenten von dort zuziehen, verschärft diese Form der Hochschulpolitik die demografischen Probleme des Ostens sogar noch - sagen die Forscher. Doch damit argumentieren sie selbst an viel grundsätzlicheren Problemen vorbei. Dass die Bedeutung diskursorientierter Institute und Studiengänge im Osten oft unterschätzt wird, ist nicht zuletzt das Symptom einer vielerorts sehr lückenhaften demokratischen Zivilgesellschaft - deren Aufbau dadurch weiter behindert wird. Außerdem schwächt er empfindlich die Präsenz in der gesamtdeutschen Öffentlichkeit. In den Talkshows geben Politologen aus Göttingen oder Mainz den Ton an, und auch in anderen Bereichen glänzt der Osten nach dem Rückzug der DDR-Bürgerrechtler nicht gerade durch kommunikative Kompetenz.
Dass es anders geht, zeigen die wenigen Erfolgsgeschichten wie etwa Jena. Zum Aufschwung der traditionsreichen Universitätsstadt haben florierende Geisteswissenschaften und wirtschaftlicher Erfolg gleichermaßen beigetragen. Das ist ein langfristiger Prozess, der sich gegenseitig bedingt: Namhafte Geisteswissenschaftler kommen nur in attraktive Städte, andererseits werden Universitätsstädte nur durch ihre Geisteswissenschaften wirklich attraktiv.
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