Kommentar: Ankunft in der Realität
Franz Müntefering sagt, dass auch im Westen die Landesverbände selbst über Koalitionen mit der Linkspartei entscheiden - der Abschied vom in Stein gemeißelten "Niemals".
B ei der SPD kann man derzeit eine 180-Grad-Drehung in Zeitlupe beobachten. Bislang galt: Im Westen und auf Bundesebene wird es niemals Koalitionen mit der Linkspartei geben. Alle SPD-Spitzen, außer Klaus Wowereit, wiederholten dieses Mantra immer und immer wieder. Jetzt weicht diese Doktrin langsam auf. Hannelore Kraft will sich in NRW alle Möglichkeiten offen halten. Franz Müntefering sagt, dass auch im Westen die Landesverbände selbst entscheiden. Das klingt banal - ist aber, in Watte verpackt, der Abschied vom in Stein gemeißelten "Niemals", das aus vollem Herzen nur noch Struck und Beck vertreten.
Stefan Reinecke ist Meinungsredakteur bei der taz.
Natürlich empfindet die SPD-Führung Lafontaine noch immer als Zumutung. Sie ist auch noch immer unfähig zu begreifen, dass der Erfolg der Linkspartei die Quittung dafür ist, dass sie ihren Markenkern "soziale Gerechtigkeit" für nichts aufgegeben hat. Aber immerhin beginnt sie zu verstehen, dass es eine Selbstfesselung ist, Koalitionen mit der Linken in NRW oder Hessen auf ewig ausschließen und dort auf das Wohlwollen der FDP angewiesen zu sein.
Die SPD-Spitze scheint zu bemerken, dass es lächerlich ist, in Berlin mit der Linkspartei zu regieren - und weiter westlich, die Linken wie die NPD zu behandeln. Kurzum: Die SPD-Führung ist dabei, sich auf die Logik eines Fünfparteiensystems einzustellen. In diesem System ist jene Partei am stärksten, die über die meisten Koalitionsoptionen verfügt. Die SPD fängt sogar an, den Lafontaine-Schock zu überwinden. Das ist die gute Nachricht.
Die schlechte lautet, dass diese Genesung noch eine Weile dauern wird. Die SPD kann ihr "Niemals"-Dogma nur klammheimlich entsorgen - in der törichten Hoffnung, dass es bloß keiner merkt. Klug wäre es, Bedingungen für Koalitionen mit der Linkspartei zu formulieren. Damit könnte sie die Linken sogar unter Zugzwang setzen.
Aber so weit ist die SPD noch lange nicht. Sie muss eine Weile noch Agitprop-Schriften gegen Lafontaine verfassen und sehr, sehr böse und unversöhnlich sein. Es wird noch dauern, ehe sie akzeptiert, dass es künftig zwei sozialdemokratische Parteien gibt. Doch die Richtung ist klar: Rot-Rot wird für die SPD eine Option.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
Starten Sie jetzt eine spannende Diskussion!