piwik no script img

■ KommentarVerfrühter Jubel

KOMMENTAR

Verfrühter Jubel

Die GAL läßt vorfreudig die Sektkorken knallen, Fraktionshäuptling Martin Schmidt möchte dem wackeren CDU-Dissidenten Markus Wegner am liebsten die Vaterlandsmedaille verleihen. Triumphator Wegner wiederum posiert stolz wie Oskar vor den Kulissen der Bürgerschaft. Zeitungskommentatoren von FAZ bis taz bejubeln die Annullierung der Bürgerschaftswahl von 1991 durch das Urteil des Hamburgischen Verfassungsgerichts. Die versammelten kritischen Geister der Republik feiern freudetrunken den Sieg der Demokratie. Endlich ein Zeichen gegen die Politikverdrossenheit.

Wirklich? Was bleibt denn für die meisten Menschen, außerhalb der kleinen feinen politischen Reform-Klasse, von diesem Richterspruch hängen? 1. Es gibt Neuwahlen, weil mal wieder eine Partei gemauschelt hat. 2. Das Ganze kostet mein Geld. 3. Die Politiker sind gewohnt ratlos. Und 4. werden diese Menschen nun weitere eineinhalb Jahre mit jener tendenziellen Handlungsunfähigkeit der Hamburger Politik leben müssen, die spätestens seit dem Diätenskandal dringend notwendige Weichenstellungen zur Bewältigung der Metropolenprobleme verhindert. Wohnungsnot, Verkehrsinfarkt, Armut, Verslumung einzelner Stadtteile. Nix hat sich gerührt.

Und das bleibt vorläufig so. Trotz des Sieges der Demokratie. Auf sicher. Dafür sorgen nacheinander die richterlich verordnete Politikunfähigkeit bis zur Zustellung des schriftlichen Urteilsspruchs, die Sommerferien, der Wahlkampf, im Spätherbst dann die wohl unvermeidlichen Koalitionsverhandlungen, gefolgt vom Superwahljahr 1994, in dem erneut parteipolitische Profilierung und taktische Spielchen Sachentscheidungen verhindern werden.

Selbst wenn man getrost davon ausgehen kann, daß auch weitere zwei Jahre sozialdemokratischer Alleinregierung an diesem Zustand politischer Agonie nicht allzuviel geändert hätten. Auch wenn man sich darüber freuen darf, daß mancher Unsinn (Hafenstraßenräumung, Containerhafen Altenwerder, Elbvertiefung) nun vorläufig vielleicht nichts wird. Für Sekt, Orden, Jubel besteht überhaupt kein Anlaß. Das Urteil des Verfassungsgerichts wird die Politikverdrossenheit der Menschen zunächst einmal verstärken. Ob es ausgerechnet den Hamburger Parteien gelingt, diese Tendenz in absehbarer Zeit umzudrehen, darf bei deren derzeitigem Zustand durchaus bezweifelt werden. Uli Exner

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen