Kommentar: Was sich in der freien Zeit spielerisch mischt, trennt die Politik
■ In Sitzhaltung zur Jeep-Safari
Freizeit ist nicht freie Zeit, jedenfalls nicht dort, wo die Sonne untergeht. Während der Homo sapiens orientalischen Schlags sich sitzend und in Gesellschaft von der Arbeit erholt – im Winter bei Besuchen und in Kaffeehäusern, im Sommer beim Picknick unter freiem Himmel –, wird der Mensch christlich-abendländischer Prägung nach Feierabend so richtig aktiv und unterzieht sich schwersten Bewährungsproben wie Jogging, Fitneßtraining, musikalischer Betätigung oder Ausdruckstanz.
Nicht ohne Grund reden die Soziologen von „Reproduktion“, wenn sie die Zeit außerhalb der Arbeit meinen, denn man reproduziert, um besser und mehr zu produzieren. Die heilige Kuh Arbeit streckt ihre Arme nach uns aus, sobald wir ihr den Rücken kehren. Unermüdlich besucht der nach oben strebende Manager in seiner Freizeit von fernöstlichen Sekten angebotene Kurse über Menschenführung und die richtige Geisteshaltung, die zum Erfolg führt. Unermüdlich trimmt der kleine Angestellte im Fitneßcenter seine Ellenbogenmuskeln, damit er am nächsten Tag gesundheitsstrotzend am Arbeitsplatz erscheinen und besser mobbing betreiben kann.
Die Trennung zwischen Arbeit und Freizeit war uns Orientalen lange Zeit unbekannt. Auch heute noch kann man in jeder deutschen Großstadt beobachten, daß bei kleinen türkischen Familienbetrieben Arbeit und Freizeit nahtlos ineinander übergehen. So bleiben Ausländer eine Herausforderung für die deutsche Freizeitindustrie. Anhand ihres Freizeitverhaltens kann man zwischen der alteingesessenen Bevölkerung und den Zuwanderern unterscheiden – Freizeitverhalten: ein Unwort an sich, das uns an Darwin oder Konrad Lorenz erinnert. Auf der einen Seite ein voller Terminkalender für den Feierabend – montags Treffen der Selbsterfahrungsgruppe, dienstags Cello- Unterricht, mittwochs Bauchtanz, donnerstags Stretching und anschließend ein Yogawochenende –, und auf der anderen Seite die puschenbewehrten Herren über die Zeit.
Doch gibt es auch in unseren wirren Zeiten Grund zum Optimismus. Unter den türkischen Grillfreunden im Berliner Tiergarten, die sich beim Anblick der Spree die Erinnerung an die Süßen Wasser des Bosporus und des Goldenen Horns wachhalten, sind die Deutschen gesichtet worden – zuerst vereinzelt, dann immer mehr Betriebsausflügler, Vereine und ganze Hortgruppen. Wo man sich doch bis vor kurzem über das „Aneignen des öffentlichen Raums durch Immigranten“ beklagt und gar eine „Umweltkatastrophe“ befürchtet hat, gelten die Türken heute als Trendsetter. Im Freizeitbereich ist die Bereitschaft, Kulturpraktiken anderer Völker zu akzeptieren, wesentlich höher als sonst. Schon lange sind Schachspiel und Meditation nicht mehr die einzigen Freizeitbeschäftigungen ausländischen Ursprungs. Nun gehören Yoga, Bauchtanz, Flamenco, Sufitanz, Tangram, I ging, Tai chi und vieles mehr zu den Unterwanderern aus dem Nahen, Mittleren und Fernen Osten. Heimlich und von Behörden unbemerkt hat sich die multikulturelle Freizeit in eine Gesellschaft eingeschlichen, die seit langem multikulturell werden will – will, aber nicht kann.
Nach der entropischen Unordnung des Universums ist bei fehlenden Zwangsbedingungen das Ineinandergreifen der Kulturen wahrscheinlicher als ihre fein säuberliche Trennung. Man schüttele ein großes Tablett voller farbiger Bälle kräftig durch. Trennen sich die Bälle nach ihrer Farbe? Im Gegenteil, wenn wir lange genug schütteln, sind alle Farben gleichmäßig verteilt. Das ist Entropie. Nach dem Gesetz der Natur kann sie nur zunehmen. Ohne die Zwangsbedingungen, die von der Politik bestimmt und der Gesellschaft aufgedrückt werden, würden sich die Farben ganz schön mischen. Im Freizeitbereich passiert genau das, aber gesellschaftspolitisch steht die Sache anders, weil da Kräfte am Werk sind, die das verhindern. Wozu dies führt, erleben wir in Bosnien. Bei Ivo Andrić können wir nachlesen, wie einst Mullah Ibrahim, Pope Nikola und der Rabbiner David Levy, ehrbare Bürger der Stadt Višegrad, miteinander in Zuneigung und Respekt verbunden, in ihrer Freizeit in einem Kaffeehaus an der Drina ihren Mokka gemeinsam schlürften, bis sich die Politik einmischte. Heute schießen sie aufeinander. Und wenn im Superwahljahr 94 die CSU „Überfremdung“ zum Wahlkampfthema macht – „um das Thema nicht Rattenfängern und Scharlatanen zu überlassen“, versteht sich – wird uns kein Fußball, kein Bauchtanz, kein Yoga mehr helfen können.
Es steht aber zu befürchten, daß durch die feierabendliche Annäherung der Kulturen recht bald die letzte Bastion der orientalischen Gemütlichkeit, die kommunikative Freizeit in Sitzhaltung, dem nie versiegenden Tatendrang des Westens und dessen narzißtischem Individualismus zum Opfer fallen wird. Ein Blick in die Urlaubskataloge der türkischen Anbieter genügt: Jeep-Safaris, Bergsteigertouren, Schlauchbootfahrten im reißenden Gewässer – Adventure à la carte, bei denen man allein vor Allah steht und sich persönlich von ihm auf seine Tüchtigkeit überprüfen lassen kann. In den guten alten Zeiten, als die Glatzköpfe „Hare Krishna“ riefen und nicht „Heil Hitler!“, hätten wir das „Kulturimperialismus“ genannt. Heute sagen wir nichts. Kemal Kurt
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