Kommentar: Klassenjustiz
■ Staatsanwalt drückte beide Augen zu
Stellen wir uns vor, ein Ladendieb ist erwischt worden, vielleicht ein Junkie, der eine Pulle Schnaps geklemmt hat oder durch eine offenstehende Balkontür einen alten Cassettenrekorder und ein Bügeleisen mitgehen ließ. Muß nicht eine empfindliche und abschreckende Strafe her? Wer sagt da: Gnade vor Recht, das arme Schwein, wie soll es den nächsten Schuß finanzieren? Zunehmend leiser werden solche Stimmen, jeder hat mal die Einbrecher im Haus gehabt oder kennt eine, die...
Wir brauchen den Bagatellfall nicht zu entscheiden, es geht um mehr: Zigtausend Mark wurden geklaut, und nicht in einem Geschäft, sondern ein Eigentumsdelikt, pikanterweise unter Freunden, die gemeinsam jahrelang für den Sozialismus gestritten haben. Und pikanterweise wurde einer erwischt, der seine Wisenschaft ganz in den Dienst der guten Sache und der armen Schweine gestellt hat. Der Vorfall handelt in gebildeten Kreisen, kein schlichter Diebstahl, sondern ein Immobilien-Diebstahl, mit juristischem Beistand vorbereitet, „Untreue“ nennt das Strafgesetz sowas.
Einen armen Schwein hätte der gestrenge Staatsanwalt sowas nie durchgehen lassen, jeder Arbeitgeber muß doch im Führungszeugnis sehen, woran er ist. Aber Hand aufs Herz: Soll man einem aufstrebenden Wissenschaftler wegen einer 50.000-Marks-Gaunerei die Karriere versauen? Klaus Wolschner
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