piwik no script img

Kommentar zu Stuttgart 21Ab in die Grube

Manfred Kriener
Kommentar von Manfred Kriener

Die Schlichtungsgespräche zu Stuttgart 21 und ihre Übertragung im TV und Internet suggerieren einen neuen demokratischen Umgang. Entschieden wird aber bei der Landtagswahl.

E inmalig in der deutschen Umweltgeschichte. Die Schlichtungsgespräche zu Stuttgart 21 werden im TV und Internet live übertragen. So etwas gab es zuletzt nach Mauerfall und Epochenwende 1990, als die Runden Tische in unsere Wohnzimmer flimmerten. Jetzt also Heiner Geißler und die Stuttgarter Unterkellerung live und tagelang, Wort für Wort.

Plötzlich ist alles möglich. Zuerst Wasserwerfer, Pfefferspray und Prügel, jetzt - 15 Jahre zu spät, aber immerhin - Fernsehen und "volle Transparenz" (Bahn-Sprecher Kefer) beim gepflegten Meinungsaustausch. Kommunikationswissenschaftler entdecken neue Elemente der Bürgergesellschaft, nur die schwäbische Hausfrau meckert: "I han koi Zeit dr ganz Dag zom Gucka!"

Natürlich ist die plötzliche Dialog- und Demokratieorgie vor allem ein Reflex auf das politische Erdbeben, das wir im Südwesten der Republik erleben. Verheerende Umfragewerte, ein Ministerpräsident, der als "Speckrambo" verhöhnt wird und zum neuen "bad man" aufsteigt - das zwingt die Bahnhofsgemeinde ihre katastrophale Kommunikationsstrategie zu korrigieren. Die fast schon panische Angst der seit 57 Jahren ohn Unterlass regierenden CDU vor der Landtagswahl am 27. März ist mit Händen zu greifen.

Doch die Kehrtwende kommt zu spät. Mit jeder Sendeminute wächst die Legitimation für die Proteste. Wer sich gestern die Begleitberichterstattung von Phoenix angesehen hat, der wurde sofort zum S21-Gegner, sofern er es nicht schon war. Spätzle-Connection, Kostenlawine und verkehrspolitischer Unsinn, Geschwindigkeitsfetischismus und Stadtzerstörung wurden kühl-sachlich dargestellt. Je genauer man hinsieht, desto fragwürdiger wird das Projekt. Diese Einsicht lässt sich weder schlichten noch wegdialogisieren. Stuttgart 21 muss ab in die Grube! Notfalls per Stimmzettel im März.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen

Manfred Kriener
Manfred Kriener, Jahrgang 1953, ist Umweltjournalist und Autor in Berlin. Themenschwerpunkte: Klima, Umwelt, Landwirtschaft sowie Essen & Trinken. Kriener war elf Jahre lang taz-Ökologieredakteur, danach Gründungschefredakteur des Slow-Food-Magazins und des Umweltmagazins zeozwei.. Zuletzt erschienen: "Leckerland ist abgebrannt - Ernährungslügen und der rasante Wandel der Esskultur". Das Buch schaffte es in die Spiegel-Bestsellerliste und wurde von Umweltministerin Svenja Schulze in der taz vorgestellt. Kriener arbeitet im Journalistenbüro www.textetage.com in Kreuzberg.
Mehr zum Thema

10 Kommentare

 / 
  • U
    Urgestein

    Für mich als eher "Zuschauer in der 2. oder 3. Reihe" hatte der erste Schlichtungstag zwei wichtige Erkenntnisse:

     

    1. Das Gutachten, welches dem Durchgangsbahnhof ein deutlichen "Kapazitätsvorteil" gegenüber dem Kopfbahnhof versprach, fusst gleich in mehrfacher Hinsicht auf falschen Annahmen. Denn während für die Haltezeiten des Kopfbahnhofes real existierende Werte genommen wurden, begnügte sich der Gutachter bei den Berechnungen für den geplanten Tiefbahnhof mit dem "technisch erlaubten Mindestwert". Der wird in der Realität aber praktisch nie erreicht. Der anwesende Gutachter rechtfertigte sein Vorgehen damit, dass von einem geplanten Bahnhof eben keine realen Zahlen vorlägen und mit Annahmen gearbeitet werden müsste - ganz so, als ob in Stuttgart nun der allererste Durchgangsbahnhof der Deutschen Bahn entstünde. Auf reale Haltezeiten von jedem anderen Durchgangsbahnhof der Republik bewusst zu verzichten liess den manipulativen Gefälligkeitscharakter dieses Gutachtens mehr als offensichtlich werden, spätestens als der Gutachter auf explizites Nachfragen auch noch einräumen musste, dass sich das Gutachten ausschliesslich auf den Bahnhof selbst bezieht und die infrastrukturellen Maßnahmen im Gleisfeld unberücksichtigt blieben. Die Engpässe hervorgerufen durch Eingleisigkeit an gleich 3 zuführenden Stellen lassen die Rechnungen des Gutachters zu reinen Hirngespinsten werden.

     

    2. Die Projektbetreiber mussten einräumen, dass auch 16 Jahre nach den Beschlüssen zur Umsetzung von "S21" überhaupt kein fertiges und schlüssiges Verkehrskonzept vorliegt. Und das ist eigentlich das noch viel grössere Fiasko, denn ohne ein solches Verkehrskonzept hätte eine Beschlussfassung eigentlich nie stattfinden dürfen. Es sei denn, bei "Stuttgart 21" ist die Verbesserung öffentlicher Verkehrssysteme gar nicht im Mittelpunkt des Interesses der Verantwortlichen.

  • SR
    Simone Rieger

    Die multimedialen Möglichlichkeiten solcher Sitzungen geben ganz neue Impulse für die öffentliche Wirkung. So habe ich z.B. auch gesehen, dass es jetzt shcon Gruppen gibt, die (trotz der zum Teil langweiligen Passagen) von der gesamten Schichtung ein Wortprotokoll anfertigen. Dadurch können die Bürger nachher noch transparenter diese Schlichtung mitverfolgen.

     

    Ich bin auf jeden Fall sehr positiv von dieser Form der öffentlichen Arbeit begeistert.

     

    Schöne Grüße

    Simone

     

    http://stuttgart21.wikiwam.de/index.php/Wortprotokoll_der_Schlichtung_22.10.2010

  • DF
    Dieter Feigenwinter, Basel

    Ist den DB-Herren schon mal in den Sinn gekommen, dass auch Frankfurt/Main Hbf ein Kopfbahnhof ist? Und dass jeder ICE und jeder EC/IC, der von Hamburg oder Berlin Richtung Basel und Mannheim-München dort gewendet werden muss? Und in München nochmals? Das bedeutet pro Zug ca. 15 min. Aufenthaltszeit. Warum muss dann ausgerechnet in Stuttgart ein Durchgangsbahnhof durchgeboxt werden, mit der seltsamen Begründung, die Bahn-Magistrale "Paris-Bratislava" würde dadurch aufgewertet? Wer heute mit der DB von Paris nach Wien und Bratislava reist,fährt heute schon schneller über Frankfurt Hbf, nämlich über Passau und Linz. Im übrigen bin ich mir nicht so sicher, ob jeder, der "Bratislava" erwähnt, weiss, wo sich diese Stadt überhaupt befindet.

  • CC
    Checker C

    Sehr gut Herr Kriener. Endlich ist es angekommen. Sie haben es verstanden.

     

    Oder um es mit einem der Worte am Bauzaun der "Grundwassermanagementbaustelle" zu sagen:

     

    Wir wollen nicht hinterher Recht gehabt haben!

     

    Oben bleiben!

  • I
    Ingo

    Hallo Herr Kriener,

    die Panikattacken der CDU erfreuen Sie offensichtlich, was in einem Kommentar, der ja ein Meinungsartikel ist, auch zulässig ist.

    Wenn Sie allerdings dazu aufrufen die bisherigen Befürworter von Stuttgart 21 nicht zu wählen und die konsequente Weigerung der Grünen, insbesondere von Herrn Özdemir sich auf eine Rücknahme der Beschlüsse zu Stuttgart 21 als unverzichtbare Bedingung einer Regierungsbeteiligung festzulegen in diesem Zusammenhang verschweigen, ist dies schlicht unredlich.

  • H
    hto

    Das sehe ich ganz anders: Die "neue Offenheit" kommt intrigant und stumpfsinnig wie immer - dann wird eben eine Zeitlang eine andere Partei des parlamentarischen Theaters den Tanz um den heißen Brei regieren.

     

    "Schlichtung" - das ist im DESTRUKTIVEN Rahmen des Systems von Ausbeutung und Unterdrückung.

    Wenn Stuttgart aber vor allem ein Umdenken von leichtfertiger Kompromissbereitschaft zu wahrhaftiger MENSCHENWÜRDE bewirken würde, dann hätten wir sehr bald eine unkorrumpierbare Kommunikation zu einer Welt- und Werteordnung OHNE konfusionierende Symptomatiken des "freiheitlichen" Wettbewerbs - selbst den Franzosen, die sicher auch nicht nur wegen der Rentenreform auf der Straße sind, würde dies sicher guttun, für die FUSIONIERENDE Bemühung einer wahrhaftigen / menschenwürdigen Globalisierung!?

  • V
    vic

    Hier noch ein interessanter Beitrag des ARD-Magazins Monitor vom vergangenen Donnerstag.

    http://www.wdr.de/tv/monitor//index.php5

  • JR
    Josef Riga

    Wer den ersten Schlagabtausch verfolgt hat, muss einsehen: es gibt nur einen "harten" Grund für die Beibehaltung der Planung eines Tiefbahnhofs, nämlich die Gewinnung eines großen Terrains in 1 A-Lage in der Stadt Stuttgart. Das wäre ja gar nicht zu kritisieren, wenn man nicht bereits ahnen würde, wie dieses Filetstück unter die üblichen Verdächtigen verteilt werden wird. Baut heute eine Kommune Wohnungen, bezahlbare sogar? Fehlanzeige! Es regiert der schnöde Mammon, Abschreibungsprojekte für inter-

    nationale Anleger und Geldvernichter, so wird es in 10 Jahren in Stuttgart aussehen - garniert mit ein paar neuen Bäumchen am Rand, damit die doofen Natur-Romantiker endlich Ruhe geben. Und ihr könnt sagen, ihr seid dabeigewesen!

    Es sei denn, am 27. März gibt es für die Kapitalfraktion aus CDUSPDFDP endlich die Klatsche, die sie verdient hat, und dann Rückabwicklung dieses Irrsinns, so schnell es geht. Es wird Zeit für die Menschen, den Staat endlich wieder i n die Hand zu nehmen, statt sich am Gängelband des Staates führen zu lassen.

  • C
    Claudia

    Ich war sehr gespannt auf die Offenlegung der lang geheim gehüteten Fakten (Betriebsgeheimnis der DB) zum Durchgangsbahnhof. Bin leider nicht überrascht sondern erwartungsgemäß enttäuscht worden von der Darstellung der Leistungsfähigkeit des Duchgangsbahnhofs: es gibt tatsächlich kein glasklar durchgeplantes Konzept sondern nur "angedachtes" und "in der Planung befindliches". Und das kann auch in der Vision nicht überzeugen oder sich zukunftsträchtig entwickeln oder bewähren.

    Es handelt sich also glasklar um ein Immobilienprojekt: ich wette, DA sind die Planungen und Gewinnprognosen perfekt durchkalkuliert.

    Ich bin auf die nächste Runde am Freitag gespannt.

  • TH
    Thomas Hanke

    Hätte man sich die Schlichtungsrunde heute im TV ohne Ton angesehen, hätte man allein schon aus den Mimiken treffliche Rückschlüsse ziehen können: teilweise betoniertes Grinsen auf der Pro-Seite gegenüber besorgt ernsthaftem Gesichtsausdruck bei den Kritikern. Die Veranstaltung hat die Projektbetreiber in ihrer Argumentationslosigkeit vorgeführt.