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Archiv-Artikel

Kommentar von Josef-Otto Freudenreich In grüner Demut

Es war eine Montage. Vor vier Monaten hat die Kontext:Wochenzeitung den Schriftzug auf einem Transparent („Stopp dem Tunnelblick“) geändert. Durch „Stoppt den Kretschmann“. Es war nur eine Ahnung, dass es so weit kommen könnte, wenn der Ministerpräsident sein Wahlversprechen vergessen sollte, das klarer nicht sein konnte: kein Stuttgart 21. „Jedes Lavieren“, schrieb der Kontext-Autor Anton Hunger, „führt zum Mappus-Syndrom“. Heute sehen ihn viele S-21-Gegner auf dem Weg dahin. Kretschmann ist ihnen zu weich, zu defensiv, zu taktisch. Aber ihn haben sie gewählt, mit großen, wahrscheinlich zu großen Hoffnungen überschüttet, und jetzt erleben sie, wie er den Rückzug antritt. Schritt für Schritt. Das schmerzt.

Die Regierungsgrünen begründen diesen Abschied auf Raten gerne mit ihrem Koalitionspartner. Mit der SPD, sagen sie, sei das Bahnhofsprojekt nicht zu verhindern, allenfalls zum Preis des Bruchs des Bündnisses. Und das könne keiner wollen, gehe es doch um einen neuen Politikstil, um eine neue Bürgergesellschaft, sprich um ein neues Baden-Württemberg. Richtig ist, dass die Genossen Schmiedel und Schmid den tief gelegten Bahnhof wollen und sich bei dem Thema längst aus der rationalen Debatte verabschiedet haben. Zusammen mit der CDU, der Bahn, der IHK, der Immobilienbranche und sonstigen Apologeten des ungebremsten Wachstums. Wer, wie Schmiedel, Gottes Segen auf S 21 ruhen sieht, braucht keine Argumente mehr.

Richtig ist aber auch, dass sich die Grünen vom Juniorpartner am Nasenring durch die Manege ziehen lassen. Wo bleibt die Kampfansage an Schmiedel, der wie ein Bulldozer durch ihren Garten bricht und alles niederwalzt, was dort hätte wachsen können? Wo bleibt die Klage gegen den Finanzierungsvertrag zu Stuttgart 21, den Kretschmann als Oppositionspolitiker noch als „eindeutig verfassungswidrig“ bezeichnet hat? Stattdessen betont er bei Beckmann, das Wahlvolk müsse das Ergebnis der Volksabstimmung akzeptieren, eines Votums, das er nicht gewinnen kann. Warum sagt er nicht, er werde weiter für seine (einstige) Überzeugung streiten? Stattdessen bekommt Winfried Hermann einen Maulkorb umgehängt, weil ihn eine große Koalition aus SPD und CDU und lokaler Presse zum Lieblingsfeind erkoren hat. Einen Verkehrsminister, der gelegentlich noch ausbricht aus der grünen Demutshaltung, die offenbar nur eines im Sinn hat: weiter regieren und das Thema vom Tisch.

In Hermann spiegelt sich das ganze Dilemma der Grünen. Sie behandeln ihn inzwischen wie einen Problembären, dessen Gehege immer enger gezogen werden muss. Sie wissen aber auch, dass er der Letzte im Kabinett ist, der als Projektionsfläche für die S-21-Gegner taugt. Er ist für sie der übrig gebliebene Streiter für ihre Sache, nur noch ihn halten sie für unbeugsam, mutig und aufrichtig. Und damit bindet er einen beträchtlichen Teil der Wähler, die den Grünen ihre Stimme gegeben haben. Als politischer Arm ihres Widerstands. Ihn rauszuschmeißen geht also nicht.

Kretschmann weiß das und hält Hermann als (gestutztes) Symbol in der Regierung. Nur: Was macht der Ministerpräsident, der Versprecher des Gehörtwerdens, mit all dem, was der Bahnhof sonst noch symbolisiert? Die „Stuttgarter Republik“, die auch mit seinem Namen verbunden wird. Es wird nicht genügen, den Bürgern zu versichern, er habe alles versucht, Stuttgart 21 zu verhindern. Aber, leider, leider, seien die Verhältnisse nicht so. Kretschmann muss wissen, dass der Streit über den Bahnhof ein Boden ist, auf dem eine neue Bürgergesellschaft gewachsen ist, die sich kein X für ein U vormachen lässt. Sie will ihn kämpfen sehen – und nicht auf Wunder warten.