Kommentar Russlands unter Putin: Der Kremlherrscher braucht den Westen
Putin kann nicht zum Status quo ante zurückkehren. Er muss auf die Proteste reagieren. Ob mit Reformen oder Härte, liegt auch in der Verantwortung des Westens.
S ollen führende Vertreter der deutschen Wirtschaft ob der erwartbaren Wiederwahl von Wladimir Putin zum Staatspräsidenten frohlocken? Das wissen sie wohl selbst noch nicht.
Bislang war das anders. Putin galt, im Gegensatz zu seinem Vorgänger Boris Jelzin, stets als berechenbar und damit als ein Garant von Stabilität. Dass sich Russland seit seinem Machtantritt im Jahr 2000 zu einem autokratischen System entwickelt hat, in dem Menschenrechtsverletzungen an der Tagesordnung sind, Oppositionelle unter Druck gesetzt, notfalls auch ausgeschaltet werden, und in dem von Rechtsstaatlichkeit keine Rede sein kann, interessierte die Herren im Dreiteiler nur am Rande. Hauptsache, Rubel und Euro rollten.
Ob der alte und neue Kremlherrscher diese viel beschworene Stabilität auch weiterhin wird garantieren können, ist offen. Denn sein Sieg gleich in der ersten Runde – mit welchem realen Resultat auch immer – kann nicht über die Tatsache hinwegtäuschen, dass sich in Russland seit den manipulierten Duma-Wahlen im vergangenen Dezember ein tiefgreifender Wandel vollzieht.
Barbara Oertel ist Co-Leitern des Auslandsressorts der taz und zuständig für die Osteuropa-Berichterstattung.
Zwar ist noch nicht ausgemacht, ob sich die „weiße Bewegung“ verstetigen und zu einer tragfähigen politischen Alternative entwickeln wird. Doch unabhängig davon: Zehntausende Demonstranten, die seit Wochen für mehr politische Partizipation und gegen von oben verordneten Konformismus auf die Straße gehen, werden nicht so schnell das Feld räumen.
Eine Rückkehr zum Status quo ante ist unmöglich. An diesem Umstand kommt Putin nicht vorbei. Er wird auf die neuen Gegebenheiten reagieren müssen – mit Repression und politischer Härte, was alles andere als ein Zeichen von Stärke wäre. Oder mit dem Versuch, den Dialog mit dem aufbegehrenden Teil der Gesellschaft zu suchen, was unweigerlich Reformen nach sich zöge.
Diese jedoch sind unerlässlich, wenn Russland nicht weiter in Stagnation verharren will. Für eine Erneuerung aber braucht Putin den Westen. Dessen Realpolitik, für die auch in Berlin gewisse Kreise plädieren, sollte genau an diesem Punkt ansetzen. Instrumente wie die deutsch-russische Modernisierungspartnerschaft sind vorhanden. Fragt sich nur, wie sie eingesetzt werden. Um auch auf einen demokratischen Wandel hinzuwirken? Oder um doch nur weiter lukrative Geschäfte zu machen? Die Verantwortung dafür liegt auch in Berlin.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Hybride Kriegsführung
Angriff auf die Lebensadern
Kinderbetreuung in der DDR
„Alle haben funktioniert“
BSW in Koalitionen
Bald an der Macht – aber mit Risiko
Niederlage für Baschar al-Assad
Zusammenbruch in Aleppo
Dieter Bohlen als CDU-Berater
Cheri, Cheri Friedrich
„Männer“-Aussage von Angela Merkel
Endlich eine Erklärung für das Scheitern der Ampel