Kommentar Regierungsverantwortung der SPD: Verkannte Reformpolitik
10 Jahre regiert jetzt die SPD, drei davon in großer Koalition. Um aber im kommenden Wahlkampf gegen die Linkspartei zu bestehen, müssen die Sozialreformen schneller umgesetzt werden.
E s ist ein kalendarischer Zufall, aber er steckt voller Symbolik. Fast exakt zum zehnten Jahrestag des rot-grünen Wahlsiegs am 27. September 1998 bricht eine weltweite Finanzkrise aus, die eine ganze Epoche wirtschaftspolitischer Deregulierung an ihr Ende bringt. Wird damit der ganze Geist, dem die bundesdeutsche Reformpolitik seit dem Amtsantritt Gerhard Schröders folgte, als falsches Denken entlarvt? Wenn Oskar Lafontaine diesen Vorwurf formuliert, dann spricht er damit aus, was viele denken.
So einfach ist es aber nicht. Die Krise des deutschen Sozialsystems in den drei Bereichen Rente, Arbeitsmarkt und Gesundheit hat mit der aktuellen Bankenkrise nichts zu tun. Es stimmt: Vom Schwung der verbreiteten Modernisierungs-, Liberalisierungs- und Amerikanisierungslogik haben sich weite Teile der politischen Eliten derart mitreißen lassen, dass sie auch Fehler machten. Die mangelhafte Aufsicht über Banken und Börsen ist davon nur eine Facette, auch die Privatisierung von Monopolbetrieben oder die fehlgeleitete rot-grüne Unternehmensteuerreform gehören dazu. Ganz zu schweigen von den radikalen Reformbeschlüssen des Leipziger CDU-Parteitags im Jahr 2003, an die sich die Partei heute nur ungern erinnern lässt - die aber zu ihrem eigenen Glück niemals umgesetzt wurden.
Die veränderte Altersstruktur der Gesellschaft, der schnellere Wandel von Berufsbildern oder die mangelnde Chancengerechtigkeit im deutschen Bildungssystem sind aber keine ideologischen Behauptungen, sie sind Realität. Deshalb waren und sind die Veränderungen im Sozialsystem oder im Bildungswesen nicht die Folge eines fehlgeleiteten Wahns, sondern notwendige und sinnvolle Weichenstellung - auch wenn man über die Einzelheiten immer streiten kann.
Kurioserweise war es ausgerechnet die große Koalition, die nach der gemeinsamen Wahlniederlage von Union und SPD vor drei Jahren das Reformtempo drosselte. Die Differenzierung zwischen sinnvollen und sinnlosen Veränderungen konnten die beiden Volksparteien schon damals nicht vermitteln. Das müssen sie ändern, wenn sie im kommenden Wahlkampf gegen die Linkspartei bestehen wollen.
Eine Koalition, die was bewegt: taz.de und ihre Leser:innen
Unsere Community ermöglicht den freien Zugang für alle. Dies unterscheidet uns von anderen Nachrichtenseiten. Wir begreifen Journalismus nicht nur als Produkt, sondern auch als öffentliches Gut. Unsere Artikel sollen möglichst vielen Menschen zugutekommen. Mit unserer Berichterstattung versuchen wir das zu tun, was wir können: guten, engagierten Journalismus. Alle Schwerpunkte, Berichte und Hintergründe stellen wir dabei frei zur Verfügung, ohne Paywall. Gerade jetzt müssen Einordnungen und Informationen allen zugänglich sein. Was uns noch unterscheidet: Unsere Leser:innen. Sie müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 50.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Es wäre ein schönes Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Streit um tote Geiseln in Israel
Alle haben versagt
Comeback der Linkspartei
„Bist du Jan van Aken?“
Soziologische Wahlforschung
Wie schwarz werden die grünen Milieus?
Nach Taten in München und Aschaffenburg
Sicherheit, aber menschlich
CDU-Chef Friedrich Merz
Friedrich der Mittelgroße
Klimaneutral bis 2045?
Grünes Wachstum ist wie Abnehmenwollen durch mehr Essen